Tja, es ist schon richtig, es gibt ganze Sektoren in denen Löhne gezahlt werden, die schlicht nicht mehr ausreichen, um ein vernünftiges Leben zu bezahlen. Da erscheint die Aussage von Herrn Westerwelle natürlich richtig – man diskutiert jetzt wieder über die Alimentierung, wie also Leuten geholfen werden soll, die nicht mal arbeiten, während die, die arbeiten, scheinbar wieder im Regen stehen gelassen werden. Andererseits klingt die Kritik Westerwelle auch albern – nämlich dann, wenn man sich vor Augen führt, dass Banken Milliarden zugesichert werden und unsoziale Manager Bonuszahlungen aus Steuertöpfen erhalten. Den Einwand, dass es im Falle der Hartz IV-Sätze die Summe macht, mag ich nicht gelten lassen. Denn der einzelne Arbeitslose kann ja nichts dafür, dass auch andere arbeitslos sind. Bei den Bankmanagern hingegen hat eine Handvoll ausgereicht, um das ganze System ins wackeln zu bringen und den Staat zum eingreifen zu zwingen.
Was die Sozialpolitik betrifft, werden sich einige vielleicht wundern, die sich noch an meine ersten Beiträge aus dem Forum erinnern, aber mittlerweile finde ich die Agenda 2010 und deren – zumindest medial und gefühlt – wichtigsten Aspekt Hartz IV gar nicht mehr so dumm. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenquote und Sozialhilfe hat Bürokratie abgebaut und für die untersten Einkommensschichten hat es teilweise sogar eine Verbesserung gebracht. Auch hat es Arbeitsplätze geschaffen, die massiven Investitionen in Maschinen statt in Arbeitsplätze, die es noch zu Beginn des letzten Jahrzehnts gab, gestoppt und Deutschland insgesamt Wettbewerbsfähiger gemacht – es hat ja Gründe, dass Deutschland all die Jahre über Exportweltmeister war. Und der geschaffene Mentalitätswandel in Richtung der Hilfe zur Selbsthilfe ist imhO ein richtiger, auch wenn das Pendel jetzt scheinbar wieder in die andere Richtung schwingt.
Es gibt aber auch zahlreiche negative Aspekte, die sich daraus ergeben haben. Die wahren Verlierer sind z.B. nicht die unteren Einkommensschichten, nein, es ist die Mittelschicht. Diese muss Angst vor dem Statusverlust haben, wenn man bereits nach einem Jahr auf Sozialhilfeniveau rutscht. Und durch die Abschaffung der Zumutbarkeitsabwägungen ist gerade auch die Mittelschicht gezwungen, einen Job außerhalb des erlernten Berufs zu wesentlich schlechteren Konditionen anzunehmen. Dies schürt natürlich Unzufriedenheit und Ängste. Daher ist Hartz IV das vermutlich einzige sozialpolitische Instrument, das keinen sozialen Frieden schafft. Darum konnte die Linkspartei ja so schnell aufsteigen, darum hat sie es ja geschafft, fast alle anderen Parteien nach links zu ziehen.
Von den handwerklichen Mängeln bei Hartz IV fangen wir am besten gar nicht erst an. Der Schwachsinn, dass man Kinder einfach als ¾ eines Erwachsenen behandelt, ist imhO keines Wortes würdig. Die grundsätzliche Überlegung dahinter hingegen schon: je mehr auf Einzelfälle eingegangen wird, desto mehr Bürokratie bedarf es. Je weniger auf Einzelfälle eingegangen wird, desto ungerechter ist es. Wie also vorgehen? Ich habe keine rechte Antwort – gesamtgesellschaftlich haben Gruppenbetrachtungen unter Umständen mehr Sinn, aus der Sicht eines einzelnen hingegen nicht …
Und natürlich hat der jahrelange Streit um Hartz IV den gesellschaftlichen Diskurs vom eigentlichen Kern weggelenkt: wie reagieren auf die Herausforderungen der Globalisierung? Hartz IV war sozusagen eine Antwort für den Sozialstaat auf eben die Globalisierung. Das allein reicht imhO aber nicht aus. Im Grunde hat der Staat doch zwei Möglichkeiten, die Volkswirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen. Er kann die Kosten senken, sprich: durch niedrige Löhne wettbewerbsfähiger zu werden. Oder er kann die Qualifikation und Qualität erhöhen, sprich: durch bessere Bildung wettbewerbsfähiger werden. Ersteres geht natürlich schneller, hilft aber auch nur kurzzeitig. Letzteres dürfte für die Volkswirtschaft sinnvoller und nachhaltiger sein, es besteht aber das Risiko, dass es zu langsam oder in die falsche Richtung läuft, d.h. es gibt keine Garantie, dass die Volkswirtschaft Deutschlands durch entsprechende Investitionen in Forschung und Bildung auch wirklich wettbewerbsfähiger wird. Dennoch bin ich – und darum ärgert es mich auch, dass jetzt wieder über Hartz IV-Sätze statt über Bildung diskutiert wird – für den zweiten Weg.
Stellt sich die Frage, was man im Falle der Niedriglöhne macht? Der von DrJones verlinkte SPON-Artikel schreibt von "Abstimmung mit den Füßen". Aber gibt es hier nicht einen Teufelskreis, der eben durch Niedriglöhne entsteht? Wenn die Leute nur wenig verdienen, können sie eben nur billig einkaufen. Kaufen sie billig ein, unterstützen sie niedrige Löhne usw. Zudem kommt hinzu, dass das Konsumverhalten teilweise hochgradig paradox ist. Da geben die Leute tausende Euro für den neusten Plasmabildschirm aus, die neuste Kamera oder investieren in ein imhO völlig überteuertes Produkt wie das iPhone oder den iPod Geld, während sie beim Bäcker murren, wenn sie 80 Cent für ein Brötchen bezahlen sollen oder der Haarschnitt beim Friseur mehr als 10 Euro kostet.
Aus diesem Teufelskreis könnten staatliche Mindestlöhne helfen. Im Gegensatz zum weit verbreiteten Irrglauben vieler Neoliberalen führen Mindestlöhne eben nicht zwangsläufig zur Arbeitslosigkeit, auch dann nicht, wenn sie hoch genug sind, damit das Lohnabstandsgebot wieder greift. Eine vernünftige und moderate Mindestlohnpolitik kann ein gutes und wirksames sozialpolitisches Instrument sein, Großbritannien hat es jahrelang vorgemacht.
Viel wichtiger fände ich es aber, in Bildung zu investieren. Und so Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und zu fördern.