Aufstand der Atheisten

Goatboy

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erik schrieb:
Naja... ein polemischer Vortrag, der halt nicht akzeptieren kann, dass bereits die Grundfundamente von Religion auf etwas anderem beruhen als seine Argumentationskette.
Darum geht es. Es sollte eigentlich von jedem denkenden Menschen verlangt werden können, ein System, das auf Angst, Lügen und Drohungen einerseits und auf Wunschdenken, Engstirnigkeit und Realitätsleugnung andererseits beruht, abzulehnen und eben nicht zu akzeptieren. Diese Vorstellung eines Gottes, der dich einerseits liebt und dir andererseits ewiges, ich wiederhole: ewiges Leid androht, wenn du seine Gebote missachtest, nicht zu akzeptieren.

Wer permanent versuchen will, menschliche Maßstäbe an göttliches Wirken anzulegen, tut sich dann natürlich leicht, Widersprüche aufzudecken.
Welche Maßstäbe sollte man als Mensch denn sonst anlegen, wenn nicht menschliche? Ein Hund würde hündische Maßstäbe anlegen, ein Fisch fischige und ein Mensch eben menschliche. Außerdem spricht nichts dagegen, an eine Vorstellung, die vom Menschen geschaffen wurde, menschliche Maßstäbe anzulegen.

Außerdem machen es sich die Gegner von Religionen immer sehr einfach, indem sie versuchen, Religionen als etwas zu betrachten, was als unabhängiges Konstrukt irgendwie existieren würde (ohne die Menschen) als eine Art Korsett, was dann irgendwo drübergestülpt würde.... "die Religion" sei verantwortlich für das und das.... "die Religion" mache uns glauben, so und so...
Da irrst du. Eben weil Religion kein unabhängiges Konstrukt ist, sondern Menschen zwingend involviert, spielt sie eine so große Rolle.

Das sit aber auch schon vom Grundverständnis falsch. Religion ist ja dem Wesen nach lebendig, eine Gemeinschaft der Gläubigen und daher ein hoch komplexes anpassungsfähiges Gemeinwesen, das nicht einheitlich betrachtet werden kann.
Lesen sie deswegen jahrtausendelang dieselben Schriften, weil Religion so lebendig und anpassungsfähig ist? Sieh dir den Papst an, der die beispiellose AIDS-Epidemie in Afrika wohlwollend hinnimmt und Kondome verbietet. Sieh dir die islamische Welt an, in der seit dem Ende des letzten Kalifats insgesamt weniger Bücher ins Arabische übersetzt wurden als jedes Jahr ins Spanische übersetzt werden. Sieh dir das orthodoxe Judentum an, in dem der Mohel einem einwöchigen Säugling grundlos die Vorhaut abschneidet und anschließend das Blut von dessen Penis mit dem Mund lutscht - sind das etwa die Folgen eines lebendigen, anpassungsfähigen Gemeinwesens oder doch eher Auswüchse altertümlicher, barbarischer Gegebenheiten?

Also mir fallen da zwei atheistische Staatsformen ein, die im alleine im vergangenen Jahrhundert vermutlich mehr Leid und Terror über die Welt gebracht haben, als alle religiös motivierten Konflikte in den Jahrhunderten zuvor.
Tatsächlich? Meinst du etwa den Kommunismus? Der nichts anderes war als der Ersatz überweltlicher durch weltliche Gottheiten? In Russland war das Volk, ähnlich wie in Europa, jahrhundertelang darauf dressiert worden, dass der Herrscher, einst der Zar, nicht bloß ein regierender Mensch war, sondern von Gottes Gnaden eingesetzt. Die Bereitschaft zu dieser Haltung war also vorhanden und konnte ausgenutzt werden. Die Rolle des Zaren übernahmen die kommunistischen Herrscher, Lenin und Stalin mussten unter Androhung hoher Strafen gottgleich verehrt werden - wie Gott in den monotheistischen Religionen und wie etwa der Kim-Clan im heutigen Nordkorea. Ich bitte zu bedenken: das Staatsoberhaupt Nordkoreas ist nicht Kim Jong-Il, sondern auch heute noch Kim Il-Sung. Kim Jong-Il ist bloß der Parteivorsitzende; der amtierende Präsident des Landes ist ein Toter. Der Kommunismus war und ist keine atheistische Staatsform, sondern eine säkulare Religion. Schau dich um, es gibt umfangreiche Literatur zu diesem Thema. Und meinst du weiterhin den Nationalsozialismus? Dessen Führer in Mein Kampf auf Seite 70 schrieb: "So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn"? Dessen Soldaten auf ihren Gürtelschnallen die Worte "Gott mit uns" trugen? Wirklich erik, wirklich?

Aber ich kann das schon verstehen - es ist schon schwer, sich als Atheist irgendwie für sein Dasein zu rechtfertigen so ohne Feindbild, wenn ja allein schon das beschreibende Wort A-Theist ausdrückt, dass man ohne Gott eigentlich nicht existiert, selbst wenn das Wort die Existenz Gottes negiert.
Das ist doch das Befreiende am Atheismus: man braucht sein Dasein nicht zu rechtfertigen. Man darf einfach Leben, ohne einem Fabelwesen Rechenschaft schuldig zu sein. Und das Wort Atheismus hat nichts mit Existenz zu tun; ich weiß nicht, wie du darauf kommst. Es leitet sich vom griechischen ἄθεος ab und bedeutet schlicht "ohne Gott".

Vielleicht sollten "die Atheisten" mal lieber drüber nachdenken was sie ausmacht, ohne sich über Abgrenzung zu definieren. Das tun die Religionen nämlich normlaerweise nicht - die schaffen zuerst ein stark anziehendes verbindendes Identifikationsmuster.
Wieder ein Missverständnis. Religionen sind erst duch die Abgrenzung zu anderen Religionen das, was sie sind. Eine Religion kann nicht ohne Anspruch auf die absolute Wahrheit existieren, mit welcher die Aussage einhergeht, dass sich alle anderen Religionen irren. Eine härtere Abgrenzung ist schwierig. Wenn man als Atheist nicht in einer erzwungenen Weltsicht leben muss, sondern seine eigenen Anschauungen entwickeln darf, ist man weniger abgegrenzt und offener gegenüber anderen Menschen.
 

agentP

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Wer permanent versuchen will, menschliche Maßstäbe an göttliches Wirken anzulegen, tut sich dann natürlich leicht, Widersprüche aufzudecken.

Welche Maßstäbe legen denn gläubige Menschen an? Glaubst du, die Bibel wurde von Menschen geschrieben oder von Gott diktiert?
Wenn letzteres, was ist dann mit dem Islam? Dem Buddhismus? Allen anderen Religion, die möglicherweise in Widerspruch stehen zum AT und NT? Liegen die alle falsch? Oder ist es nicht möglicherweise einfach so, dass alle Vorstellungen von Göttern auch rein menschliche Vorstellungen sind? Und warum sollte man dem dann nicht mit menschlicher Logik und menschlichen Maßstäben antworten dürfen?
 

Themis

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Ich empfehle da mal die Projektionstheorie von Feuerbach. Als 17 jähriger konnte ich nach Lesen der Schrift vor lauter Erkenntnisfreude die Nacht nicht mehr schlafen...
 

agentP

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Oder den guten 2500 Jahre alten Xenophanes:

„Wenn die Pferde Götter hätten, sähen sie wie Pferde aus“
 

Goatboy

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Oder wer hätte gedacht, dass ich jemals voller Zustimmung Karl Marx zitieren würde; für den ersten Satz des Folgenden könnte ich ihm seine sozialistischen Füße küssen:

"Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt."

Großartig!
 

erik

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@goatboy

Klar, die Antwort kommt, keine Bange... :twisted:

Also, wenn Herr Marx die Abschaffung der Religion fordert, erfreut dich das, wenn es seine pragmatischen Erben im Zuge der russischen Revolution tun, ist das aber nur "Ersatzreligion"?

Da stimmt doch was nicht.

Ich halte es auch nicht für legitim, zu behaupten, Kommunismus und Nationalsozialismus seinen lediglich Religionen in anderem Gewand gewesen. Unter beiden Diktaturen wurden gläubige Menschen massiv verfolgt. Das waren Staatsorganisationen, die von atheistisch geprägten Menschen ersonnen und durchgesetzt wurden. Und es war ziemlich ekelhaft, was dabei herauskam. Und ein Grund dafür ist mit Sicherheit, dass man mit einem geistigen Fundament des Staates in dem jegliche Verantwortung vor einer "höheren Macht" einfach wegfällt dem menschlichen Gewissens eine tragende Stütze entzieht.
Dass sich Diktaturen gern relgiös verbrämter Prinzipien bedienen, um eigene Greuel zu verdecken, zu überhöhen oder um einen Führerkult zu etablieren, kannst du aber nun wirklich nicht den Religionen vorwerfen. Es beweist einfach nur einmal mehr die Sehnsucht der Menschen nach Ritualen. Und die Einfallsslosigkeit der Atheisten solche Rituale zu ersinnen, ohne sich auf "höhere Mächte" zu berufen.

Du schreibt, Religion beruhe auf Androhung ewiger Strafe?

Ähm, könntest du mir bitte zeigen, belegen, theologisch benennen, wo diese Ansicht heute vertreten, gelehrt und geglaubt wird, wenn wir uns im christlichen Bild gefinden.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass du alttestamentaische Stellen vorweisen können wirst, aber im Gegensatz etwa zum Islam hat das Christentum seit Luther eine hochentwickelte textkritische Haltung entwickelt und fragt sich auch heute immer wirder noch, wie manche Stelle in der Bibel entstanden sind, in welchem Kontext sie stehen und wie sie heute zu verstehen sind. In der Auffasung von Religion wie sie mir im Alltag begegnet und wie Christen in meiner Umgebung sie vorleben und für ihr Leben verstehen gibt es den strafenden Gott jedenfalls nicht. (kA, vielleicht gräbst du auch eine papstliche Bulle zu dem Thema aus, da wäre ich mir jetzt nicht so sicher)

Dann ist da der Punkt mit den göttlichen und den menschlichen Maßstäben. Das ist einfach eine Frage der Systembetrachtung. Und damit wird es natürlich zu einer Glaubensfrage. Wenn man wirklich glaubt, dass allem ein göttliches Prinzip innewohnt, kann man das natürlich nicht mit menschlichen, pferdlichen oder fischischen Maßstäben durchschauen oder Prinzipien der Logik daran anlegen. Das ist einfach so und gewissermaßen eine Frage des Definitionsraums.
Wir können das aber natürlich auf ein einfacheres Beispiel herunterbrechen um so einen Gegenstand der Diskussion zu bekommen, sonst drehen wir uns ja im Kreis:
es scheint gewisse Wert- und Moralvorstellungen zu geben, auf die der menschliche Erfindungsgeist in praktisch allen erfolgreichen Kulturen gekommen ist: im Judentum waren dies die 10 Gebote, die ja auch ein wesentlicher Baustein des christlichen Wertesystems sind.
Diese Werte existieren aber auch ohne einen Gott, es sind Werte a priori, sie scheinen einfach vorhanden zu sein und sich auch einer atheistischen Logik irgendwann zu erschließen, ganz ohne göttliche Erkenntnis oder Erfindung.

Und das wiederum ist doch irgendwie seltsam, dass da gewisse moralsiche Dinge einfach zu existeiren scheinen, ohne menschliches Zutun, findest du nicht? Warum kommen wir irgendwann auf den Gedanken dass es für ein Zusammenleben schlecht sein könnte, dem anderen etwas wegzunehmen, oder ihn totzuschlagen?

@deine Einzelbeispiele für religiöse Rückwärtsgewandtheit

Der Papst und Aids - das sit ja ein gerne genommenes Beispiel. Ich halte das auch für höchst problematisch, aber auch der Papst ist da in der katholischen Kirche absolut nicht meinungsbildend, hör dich da mal um... andererseits ist es natürlich durchaus logisch, auf einem Sexualverhalten zu bestehen, was auf Monogamie basiert, das würde (theoretisch) die Ausbreitung der Seuche ja auch verhindert. Offenbar ist hier das moraltheologische Konzept aber einfach nicht kombatibel zum Alttagsverhalten der Menschen. Trotzdem ist es nicht die Verantwortung der katholischen Kirche Aids in Afrika zu bekämpfen, obwohl sie das im gewissen Sinne ja tut. Es funktioniert nur nicht.

Der Islam und die Buchfrage.
Meiner persönlichen Meinung nach steht der Islam vor einer ähnlichen Auseinandersetzung wie das Christentum es mit der Reformation tat. Und genau an solchen Fragen (auch der Übersetzung, der Rezitaion grundlegender Texte usw) wird sich sowas entfachen. Man darf gespannt sein, wie so eine Relgionsverwandlung in den Zeiten von Vernetzung funktioniert und in welchen Zeiträumen das passiert.

Die jüdische Beschneidung
Du formulierst das beinahe so, als sei jeder Rabbi der diese Ritual durchführt ein Kinderschänder. Ich kenne mich da mit der Tradition nicht aus, aber mir sind zumindest keine Berichte bekannt, dass sich irgendjemand dadurch traumatisiert fühlt. Wieso soll eine Religion nicht archaisch anmutende Rituale tradieren? Gerade dass sie noch praktiziert werden und Teil des Alltags der orthodoxen Juden sind, beweist doch meine These von der lebendigen Gemeinschaft.

Begriffsdefinition: Atheismus
Ich habe mich vielleicht mißverständlich ausgedrückt, oder du mich nicht richtig verstanden. Im Grunde meinen wir dasselbe, interpretieren aber unterschiedlich. Mir ging es nicht primär um die Existenz, sondern um das Wort (das dann ja eine Existenz impliziert)

Wieso definiert man sich über die Nicht-behauptung von etwas? "ohne Gott". Das ist nicht besonders kreativ. Es läßt auch die Möglichkeit offen, ob man lediglich ohne eine Gott auskommen will, oder ob man der Meinung ist, ohne Gott zu sein. Demokraten nennen sich ja auch nicht "Ohne-Diktatoren" oder "Nicht-Nazis". Es ist einfach keine tolerante, sondern eine konfrontative Autodefinition. Ich empfinde das nicht als befreiend. Freigeist ist doch da ein viel schöneres Wort.

Religionen und Abgrenzung

Relgionen sind von ihrer Gründungsgeschichte her so, daß sie immer identifikationsstiftend waren und zwar nicht über Abgrenzung, sondern über Schaffung von Inhalten. Dass sich dann natürgemäß Abgrenzungen zu benachbarten Religionen ergeben erfolgt daraus, aber die Abgrezung ist kein Prinzip. Zumindest fällt mir kein Beispiel ein. Du kommst mit diesem Anspruch auf abolute Wahrheit. Das ist aber weder das Fundament, noch eine notwendige Voraussetzung für eine Religion. Da gibt es halt andere Menschen, die etwas anderes glauben. Ja, und? Entscheidend ist ja dann der Umgang miteinander. Ob man in einen spannenden Dialog, eine konstruktive Diskussion oder eine martialische Auseinandersetzung gerät. Für alles gab es in den Jahrhunderten viele Beispiele, natürlich auch viele, in denen Religion instrumentalisiert wurde.

Aber Religion setzt eben auch positive Energie frei und ich persönlich würde mir auch eine religiös freiheitliche Welt wünschen, die mehr vom Logos als vom Dogma geprägt wäre, aber eine Welt ohne Religion: öde und leer.
 

agentP

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Unter beiden Diktaturen wurden gläubige Menschen massiv verfolgt. Das waren Staatsorganisationen, die von atheistisch geprägten Menschen ersonnen und durchgesetzt wurden.

Kannst du mal irgendwie belegen, dass im Nationalsozialismus Menschen verfolgt wurden weil sie Gläubig waren?
Die Mehrheit der Protestanten hat sich unter dem Dach der "Deutschen Christen" prima mit dem Regime arrangiert und die katholische Kirche hat ein äusserst großzügiges Konkordat mit dem Regime geschlossen, das ihre Stellung in Deutschland einzigartig macht, selbst im Vergleich mit erzkatholischen Ländern wie Italien.
Natürlich gab es einzelne Widerstandskämpfer die aus einer persönlichen religiösen Überzeugung heraus agiert haben und die meinen vollen Respekt haben.
Und selbst die "Bibelforscher" bzw. Zeugen Jehovas wurden doch nicht verfolgt weil sie generell gläubig waren, sondern weil sie in Folge ihres Glaubens den Kriegsdienst und den Führerkult verweigerten.

Aber abgesehen davon sind doch die Nazis mit der Religion an sich und den großen Kirchen im besonderen super klargekommen.
Teilweise wurden doch sogar eigene esoterische Protoreligionen entwickelt.
Das alles ist aber doch nichts, was sich Menschen zwischen oder gar innerhalb verschiedener Religionen auch antun. Wie soll man das dem angeblichen Atheismus der Nazis anlasten?
Wo siehst du da eine generelle Antireligiosität?
Wissenschaftliche Nachweise einer Kontinuität des deutschen Antisemitismus von Luther bis Hitler gibt es ebenfalls zuhauf. Insofern wäre ich sogar eher vorsichtig, ausgerechnet die Nazis als Beispiel für atheistische Verfehlungen heranzuziehen, denn womöglich lässt sich gar nicht so schwer nachweisen, dass eine Menge ihrer Verbrechen aufgrund von Vorstellungen begangen wurden, die ihre Wurzeln durchaus in der Religion haben.
 

Angel of Seven

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Hier ist ein schöner Artikel zum Thema:

Was führen die Atheisten im Schilde?

Der abgelehnte Gott ist Mode: Dem Fortschritt steht der Glaube nur im Weg, sagen Kritiker wie Richard Dawkins oder Christopher Hitchens. Doch ohne Religion kommen selbst ihre Kritiker nicht aus. Und mancher Atheist ähnelt in seinem universalen Eifer seinem bekämpften Gegner.


.......
Der eifernde Atheismus reproduziert einige der übelsten Eigenschaften von Christentum und Islam. Er ist, wie diese beiden Religionen, ein Projekt, das auf universale Ausbreitung zielt. Für fanatische Atheisten steht außer Frage, dass ein besseres Leben möglich ist, wenn nur jeder Mensch ihre Sicht der Dinge akzeptiert, und dass eine bestimmte Lebensweise - ihre eigene, entsprechend ausgeschmückt - für jedermann das Beste ist. Natürlich muss der Atheismus keine missionarische Veranstaltung sein. Man kann sehr wohl ungläubig sein und Religionen freundlich tolerieren. Es ist ein seltsamer Humanismus, der ein zutiefst menschliches Bedürfnis verdammt. Aber genau das tun die militanten Atheisten, wenn sie den Glauben dämonisieren.

.....

http://www.faz.net/artikel/C31315/religionskritik-was-fuehren-die-atheisten-im-schilde-30098357.html
 

haruc

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@ erik,

ich glaube das grundlegende mißverständnis hier in diesem thread ist, dass "Religion" mit jeweils zwei unterschiedlichen Definitionen gebraucht wird - und daher das Aneinandervorbeireden eine Zwangsläufigkeit ist.

Ich habe den Eindruck, dass Du unter "Religion" eher die Gesamtheit der etablierten Buchreligionen verstehst, während andere hier (oder zumindest doch ich selber) unter "Religion" jegliches System verstehen, das auf religiösen "Mechanismen" beruht, also Heilserwartung, Hoffnung, Vertrauen in höhere Macht und Glauben an ihre Wirksamkeit. Auf diesem abstrakten Level betrachtet, kann man durchaus Parallelen zwischen dem Christentum und dem Nationalsozialismus oder dem Kommunismus erkennen (genau genommen muss man dazu noch nicht mal sonderlich scharfe "Augen" haben, es springt einem ins Gesicht). Diese Parallelen sind halt nicht Inhaltlicher Natur, denn darum gehts auch garnicht, sondern eher struktureller/funktionaler Natur.

Abgesehen davon hatten, wie agentP bereits schön ausgeführt hat, die beiden großen Konfessionen in Deutschland keine all zu großen Probleme mit dem NS; man arrangierte sich eben.

Man kann es zwar nicht den beiden großen christlichen Konfessionen anlasten (im Sinne einer Fahrlässigkeit oder eines Vorsatzes), aber es erscheint doch bei näherer Betrachtung so, dass die Strukturen, die sie dem Volk über Jahrhunderte eingeimpft hatten, den Nationalsozialistischen Terrorstaat sehr begünstigt haben.

Es war ja auch scheinbar kein Widerspruch, dass beim "europäischen Bürgerkrieg" 1914-18 jede Partei ihre Soldaten mit einem Spruch, der sinngemäß dem preußischen Wahlspruch "Gott mit uns" entsprach, ins Gemetzel schickte. Und gerade für die protestantischen Priester ist es ab 1916 belegt, dass sie in schädlichster Weise die Ziele des Alldeutschen/Vaterländischen Vereins von der Kanzel herab predigten und sich somit geradezu in den Dienst der Kriegstreiberei stellten. Hier wird schon das besondere - eigentümlich protestantische - Verhängnis erkennbar, nämlich die Personalunion von Landesherr und kirchlichem Oberhaupt, das 20 Jahre später zum Wegbereiter des Untergangs werden sollte.

Man kann es drehen und wenden wie man will: Religionen haben in den großen Unglücken des 20 Jahrhunderts immernoch eine gewichtige Rolle gespielt, und das oftmals nicht zum Guten hin.
Ich kenne nur einen Menschen, der sich selbst als gläubig bezeichnet, und dennoch zu dieser Erkenntnis in der Lage war. Allerdings ist er auch Katholik, das macht vielleicht manches nochmal etwas entspannter.
 

Simple Man

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Entschuldigt, aber wenn ich argumentiere, dass die Diktaturen der Nationalsozialisten und der Kommunisten im Grunde auch Religionen waren bzw. religiöse Strukturen nutzten, dann wird da doch eh ein Schuh draus - ein "Abschaffen" von Religionen ändert dann doch gar nichts, weil die - angeblich - dahinterliegenden Mechanismen von anderen Systemen kopiert werden können ...

Vielleicht, nur vielleicht, könnte man dann auf den Trichter kommen, dass es nicht Religionen sind, die Menschen töten oder verblöden oder was auch immer ... sondern dass es Menschen sind, die Menschen töten oder verblöden oder was auch immer ...

Ich weiß offen gesagt nicht genau, was die (organisierten?) aufständischen Atheisten überhaupt wollen ... :gruebel:
 

haruc

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simple man schrieb:
Vielleicht, nur vielleicht, könnte man dann auf den Trichter kommen, dass es nicht Religionen sind, die Menschen töten oder verblöden oder was auch immer ... sondern dass es Menschen sind, die Menschen töten oder verblöden oder was auch immer ...

Ja und nachdem man auf den Trichter gekommen ist, merkt man, dass man damit etwa 99,9% der wirksamen Kräfte außer acht lässt und sich auf das eine Promill konzentriert, mit dem man alles aber auch wieder nichts erklären kann. Diese Feststellung ist nichts weiter als eine pragmatische Feststellung, die zwar nicht falsch ist; aber sie erklärt nichts und bringt uns nicht weiter.
 

Simple Man

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Und alles, was mit Gruppendynamiken und deren Ausnutzung zu tun hat, unter Religionen zu subsumieren, das bringt uns weiter?

Ist dann jedes Fantum eine Religion? Ich meine, etymologisch fusst das Wort auf Fanatismus ... was ist mit Kult? Ist Star Trek eine Religion? Sind Anhänger eine politischen Partei religiös? Usw.?

:gruebel:
 

agentP

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Ich krieg das alles ja nur am Rande mit, aber so aus den Augenwinkeln betrachtet habe ich den Eindruck, dass diese populären Atheisten ohnehin praktisch ausnahmslos auf die großen Konfessionen innerhalb der Buchreligionen zielen. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern jemals irgendwas gelesen zu haben das sich aus atheistischer Sicht mit Zen-Buddhismus oder Rastafarianismus auseinandersetzt oder dem Quäkertum.
Das finde ich persönlich ein wenig seltsam, weil ein Argument wie das, das sich gegen einen ewig strafenden Gott wendet, selbst innerhalb des Christentums schon nicht mehr gar nicht auf alle Konfessionen anwendbar ist.
Das erweckt für mich den Eindruck, dass man sich die Punkte recht willkürlich rauspickt, die auch ohne Anstrengung und sehr effekthascherisch argumentativ angegangen werden können.

Für mich als nicht-missionarischen Atheisten :) ist das jedenfalls seltsam, denn ich finde jetzt Katholizismus nicht wirklich abwegiger als Shintoismus, Animismus oder True-Norwegian-Metal-Heidentum und aus meiner Perspektive verdient auch nix davon mehr oder weniger Grundsatzkritik.
 

Goatboy

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Die großen Religionen sind und waren halt prominenter und bedeutender, deshalb wird über sie gesprochen. Es überträgt doch auch niemand ein Fußballspiel der Kreisliga im Fernsehen, wenn gleichzeitig Champions League läuft.

Eine Sache wurde, glaube ich, missverstanden: niemand hat dem Nationalsozialismus religiöse Strukturen bescheinigt. Man könnte darüber diskutieren, wie auch beim Kommunismus, aber im gegebenen Fall ging es darum, dass erik den alten Hut hervorgekramt hat, es habe sich dabei um eine atheistische Staatsform gehandelt, was religiöse Anhänger immer wieder versuchen als Totschlagargument gegen Atheismus zu verwenden. Nur ist das völliger Unsinn. Doch selbst als ich erik eine Textstelle nannte, in der Hitler schrieb, er habe das Werk des allmächtigen Schöpfers ausgeführt, betrachtete erik ihn noch immer als "atheistisch geprägten Menschen". Wie soll man mit solchen Leuten reden?

Im Übrigen habe ich ja nicht behauptet, dass die quasireligiöse Ausrichtung des Kommunismus der Grund für seine Verbrechen gewesen wäre. Lediglich dass die Parallelen doch sehr deutlich sind. Nur lasse ich es ebenso wenig gelten, wenn jemand behauptet, Stalins und Lenins Massenmorde seien wegen ihres Atheismus begangen worden. Stalin und Hitler hatten beide Schnäuzer, wie wäre das als Ursache der Säuberungen?

Zu deiner Frage, Simple, was "aufständische" Atheisten wollen: ich kann nur für mich reden und bin sicher nicht aufständisch (und nicht immer organisiert...). Was wollen denn die, die über Regimestürze in Nordafrika debattieren? Was wollen die, die über Linksextremismus diskutieren? Was wollen die, die überlegen, wohin die Türkei steuert? Erst einmal diskutieren, in einem Internetforum das genau dafür da ist. Ok? Ok. Ich für meinen Teil versuche nicht, jemanden umzuprogrammieren. Ich versuche nicht, Gläubige ungläubig zu machen, Raucher zu Nichtrauchern zu erziehen oder Idioten zu schlauen Kerlchen zu ändern, und das alles zu einem wesentlichen Anteil aus einem Grund: weil es sowieso nicht funktioniert. Entweder jemand kommt aus eigener Kraft darauf, oder gar nicht. Mit der Religion ist es bloß ein wenig wie mit Sex - mach was du willst, aber mach die Tür zu. Ich will dir nicht beim Beten zusehen. Und das akzeptieren eben nicht alle; damit meine ich niemanden hier im Forum, sondern draußen. Im kleinen Rahmen ist es ein nerviges Ärgernis, im großen Rahmen, im Weltmaßstab, passieren deswegen manchmal sehr hässliche Dinge.

Und dieses lahme Argument, es seien ja gar nicht die Religionen schuld, die Religionen würden ja nur benutzt... Ich kann es nicht mehr hören. Gäbe es denn Verbrechen im Namen von Religionen, wenn es Religionen nicht gäbe? Nein. Und natürlich kommt es auf den Inhalt der Schriften an, sowie auf die Ausführung (nicht Auslegung!) derselben. Wenn alles Übel nur im Menschen an sich liegt und nicht in den Religionen, warum gab es dann nie einen Krieg im Namen Buddhas? Warum nie einen Massenmord an Ungläubigen, die nicht Zarathustra huldigen? Die meisten religiösen Verbrechen wurden von Christen oder Moslems begangen, Anhängern zweier Religionen, die in ihren Schriften offen zu Gewaltverbrechen aufrufen. Nun könnte man berechtigterweise das Judentum nennen, das sich die Tora mit dem Christentum teilt und argumentieren, dass Juden keine religiösen Kriege geführt haben - ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil sie selbst immer früher auf die Kappe bekommen haben, vielleicht weil der Bildungsstandard im Judentum im Durchschnitt immer höher war als bei den regionalen Nachbarn.
 

Simple Man

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Offen gesagt passiert es mir recht selten, dass mich religiöse Menschen irgendwie nerven ...

Gäbe es denn Verbrechen im Namen von Religionen, wenn es Religionen nicht gäbe? Nein.
Und gäbe es kein Geld, würde keiner wegen seiner Brieftasche ausgeraubt werden ... und gäbe es keine Eifersucht, würde der Ehemann seine Frau nicht mit nem Messer abstechen wollen ... soll heißen: wenn es keine Religionen gäbe, würde es halt Verbrechen aus wirtschaftlichen, nationalen, philosophischen, rassistischen, ethnischen, emotionalen, rationalen usw. Gründen geben ... warum also auf die Religionen allein konzentrieren?

warum gab es dann nie einen Krieg im Namen Buddhas?
Weil der Buddhismus eher selten Staatsreligion war? Ansonsten empfehle ich an der Stelle ja immer Brian Victorias "Zen, Nationalismus und Krieg", wenn das Buch auch nicht unumstritten ist ...

Ich habe ehrlich gesagt immer noch nicht genau verstanden, was dein Anliegen ist ... Religion ist okay, aber sie sollte dich nicht belästigen, weil du es als reine Privatangelegenheit ansiehst?
 

Themis

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Nun könnte man berechtigterweise das Judentum nennen, das sich die Tora mit dem Christentum teilt und argumentieren, dass Juden keine religiösen Kriege geführt haben - ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil sie selbst immer früher auf die Kappe bekommen haben, vielleicht weil der Bildungsstandard im Judentum im Durchschnitt immer höher war als bei den regionalen Nachbarn.

Die Juden haben Religionskriege geführt, als es noch jüdische Staatsgebilde gab (s. Jesaja, der zum heiligen Krieg gegen die Aramäer aufrief).
Ansonsten gab es dann noch jüdische Terrorgruppen im Stile der Hagana, die vor der Gründung Israels in Palästina ihr Unwesen trieben.

An dem Einwand, dass Religionskriege Menschenwerk sind, und Religionen ein mächtiges Instrument zur Ausübung von Macht sein können, ist m.E. etwas dran.
 

Simple Man

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agentP schrieb:
Oder ist es nicht möglicherweise einfach so, dass alle Vorstellungen von Göttern auch rein menschliche Vorstellungen sind? Und warum sollte man dem dann nicht mit menschlicher Logik und menschlichen Maßstäben antworten dürfen?
Weil das "Ratio" für die Religionen keine so große Rolle spielt, ja nicht einmal spielen kann ... ich meine, das Thema Gott ist im Rahmen theologischer Betrachtungen nur bedingt ergründbar ... wie soll von etwas erschöpfend berichtet werden, das gemäß Definition unerschöpflich ist? Und wenn Beschreibungen Demarkationen bedingen, Gott aber unendlich viele Eigenschaften hat, wie willst du ihn dann beschreiben?

Im Grunde bleibt da doch nur die Möglichkeit - denn die Vervielfachung von Allgemeinbegriffen kann kein dichtes Bild liefern, bei Vergleichen ordnest du göttliche Attribute menschlichen Kategorien unter und eine Approximation wird immer unzureichend bleiben - der Konstituierung des Gottesgeheimnisses durch apodiktisch aufgestellte Widersprüche (die andere Möglichkeit wäre es, frei nach Wittgenstein, gar nicht mehr über Gott zu reden ... aber eine Religion, die nur noch schweigt, ist keine Religion mehr), was natürlich der Vernunft bzw. dem Ratio widerspricht ... aber das soll/muss ja eben so sein ... daher halte ich sog. rationale Argumente bei theologischen Diskussionen immer für ein wenig fehl am Platz ... man geht imo schlicht von fundamental unterschiedlichen Bezugssystemen aus ... :egal: ... was die meisten Naturwissenschaftler imo auch erkannt haben und daher Religionen im allgemeinen und Gott im speziellen im Rahmen ihrer naturwissenschaftlichen Tätigkeit als gegenstandslos ansehen ...
 

agentP

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Und wenn Beschreibungen Demarkationen bedingen, Gott aber unendlich viele Eigenschaften hat, wie willst du ihn dann beschreiben?
Ist denn die Aussage, dass Gott (ich sprach eigentlich neutraler von Göttern) unendlich viele Eigenschaften hat, etwas das allen Religionen gemein ist? Meines Wissens gibt es viele Religionen in denen die Götter keineswegs allmächtig sind. In zahlreichen Mythologien geht die Welt unter, weil die Götter scheitern und von Eisriesen oder sonstwas die Hucke voll kriegen. Und ich denke mal manche Völker haben ein sehr konkretes Bild von ihren Göttern. Von Zeus zum Beispiel wissen wir ziemlich viel, sogar seine Weibergeschichten en detail. :rofl:

Ich kann es aber auch andersrum drehen: Solange sich philosophische Theologen mit formaler Logik (Gottes-)Beweise führen oder Kreationisten versuchen biblische Inhalte auf angeblich rationale Beine zu stellen, sollte es auch kein Problem sein rational darauf zu Antworten.

Und überhaupt wenn die "ratio" in der Religion keine Rolle spielt, wäre es dann nicht an der Zeit die Theologie als wissenschaftliche Disziplin abzuschaffen?
 

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