WACHSTUMSRÜCKNAHME im Süden setzt voraus, dass wir versuchen, einen "Circulus virtuosus" in Gang zu setzen. Er lässt sich mit acht Begriffen kennzeichnen: neu bewerten, umdenken, umstrukturieren, lokalisieren, umverteilen, reduzieren, wiederverwenden, recyceln. Ist dieser "tugendhafte Kreislauf" erst einmal in Gang gebracht, ist es möglich, die wirtschaftliche und kulturelle Abhängigkeit des Südens vom Norden zu beenden und an eine historische Entwicklung anzuknüpfen, die durch Kolonisation, Entwicklung und Globalisierung unterbrochen wurde. Es gilt, eine eigenständige kulturelle Identität herauszubilden, in Vergessenheit geratene landesspezifische Produkte, wieder einzuführen und die entsprechenden "antiökonomischen" Werte zu pflegen sowie die traditionellen Techniken und Fertigkeiten neu zu entwickeln.
Und wenn wir im Norden zeigen wollen, dass wir wirklich gewillt sind, dem Süden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so müssen wir vielleicht noch eine andere Verpflichtung anerkennen, der nachzukommen einige indigene Völkern fordern: Wir müssen ihnen ihre verlorene Ehre zurückgeben. Dies wäre ein Ansatz, um mit dem Süden eine Partnerschaft der Wachstumsrücknahme zu begründen. Die Rückerstattung ihres geplünderten Erbes wird weitaus schwieriger sein.
Wenn wir uns dagegen entschließen, unter dem Vorwand der Bekämpfung von Elend, das durch die Wachstumslogik hervorgerufen wird, an ebendieser Wachstumslogik im Süden festzuhalten, so kann daraus nur eine weitere Verwestlichung folgen. Einem solchen Konzept mögen die besten Absichten zugrunde liegen - "der Bau von Schulen, Gesundheitsstationen, Trinkwasserleitungen und die Wiedererlangung von Ernährungsautonomie". Tatsächlich läuft dies stets auf einen ordinären Ethnozentrismus hinaus, der die alte Fixierung auf Entwicklung beinhaltet.(3)
Man wird sich schon entscheiden müssen: Entweder man fragt die betreffenden Länder - d. h. ihre Regierungen oder die Öffentlichkeit - nach ihren Wünschen. Dann werden sie zweifellos nicht die Erfüllung von "Grundbedürfnissen" verlangen, die der westliche Paternalismus ihnen zuschreibt, sondern Klimaanlagen, Handys, Kühlschränke und vor allem Autos. Und natürlich auch Kernkraftwerke, Kampfflugzeuge und Schützenpanzer.
Oder aber man nimmt den Aufschrei eines guatemaltekischen Bauernführers zur Kenntnis: "Lasst die Armen in Ruhe, und verschont sie mit eurem Entwicklungsgerede."(4 )Ob Vandana Shiva in Indien oder Emmanuel Ndione in Senegal - alle Sprecher der sozialen Bewegungen im Süden äußern sich auf ähnliche Weise. Erst vor kurzem haben die südlichen Länder ihre gesicherte Ernährungsbasis eingebüßt. In Afrika existierte sie noch bis in die 1960er-Jahre, bis zum Beginn der so genannten Entwicklungsoffensive.
Ist es nicht der Imperialismus der Kolonisierung, der Entwicklung und der Globalisierung, der die Selbstversorgung mit Lebensmitteln täglich noch weiter untergräbt und die Abhängigkeit vom Norden verstärkt? Vor der Verschmutzung durch industrielle Abfälle war das Wasser in diesen Ländern noch trinkbar. Und was die Schulen und Gesundheitsstationen anbelangt: Sind diese Institutionen wirklich geeignet, Kultur und Gesundheit zu schützen? Ivan Illich hat da ernsthafte Zweifel angemeldet, übrigens auch mit Blick auf die nördliche Hemisphäre.(5)
Zu Recht betont deshalb der iranische Ökonom Majid Rahnema: "Was man noch immer als Hilfe bezeichnet, ist nur ein finanzieller Zuschuss zur Stärkung der Elend produzierenden Strukturen. Wenn die Opfer dieser Enteignungspolitik jedoch versuchen, sich vom globalisierten Produktionssystem abzukoppeln, um nach Alternativen zu suchen, die ihren eigenen Wünschen entsprechen, ist niemand da, der ihnen Hilfe bietet."(6)
Eine Alternative zur Entwicklung kann jedoch weder im Süden noch im Norden in der Rückkehr zu Vergangenem bestehen, auch nicht in der pauschalen Durchsetzung von "Nichtwachstum". Für die Ausgegrenzten und Gestrandeten der Entwicklung geht es nur um eine Art Synthese aus der verloren gegangenen Tradition und einer unerreichbaren Modernität. Die Formulierung klingt paradox, doch sie bezeichnet präzise die doppelte Herausforderung, vor der wir stehen.
Unsere wichtigste Ressource ist dabei der gesellschaftliche Erfindungsreichtum, der sich von allein einstellen wird, sobald wir die Zwangsjacke unserer ökonomistischen Fixierung auf "Entwicklung" abgelegt haben. "Nach der Entwicklung" - das ist zwangsläufig vielgestaltig und erzwingt, nach kollektiven Entfaltungsmöglichkeiten zu suchen, die andere Ziele begünstigen als den materiellen Wohlstand auf Kosten der Umwelt und der sozialen Beziehungen.
Was das gute Leben ist, wird je nach Kontext sehr verschieden sein. Im Grunde genommen geht es darum, neue Kulturen aufzubauen. Egal ob dieses Ziel umran (Blüte) heißt wie bei Ibn Kaldun(7) oder swadeshi-sarvodaya (Verbesserung der sozialen Bedingungen für alle) wie bei Gandhi oder bamtaare (es miteinander gut haben) wie bei den westafrikanischen Tukulör oder fidnaa/gabbina (Ausstrahlung einer wohl genährten und sorgenfreien Person) wie bei den äthiopischen Boran(8) - entscheidend ist, dass endlich Schluss ist mit der Zerstörung, die unter dem Etikett Entwicklung oder Globalisierung immer weiter vorangetrieben wird.
Kein Zweifel, dass der Umsetzung von Wachstumsrücknahme im Süden wie im Norden eine regelrechte Entgiftungskur vorangehen muss. Wachstum hat ja die ganze Zeit nicht nur als schädlicher Virus gewirkt, sondern auch als Droge: "Um die Lebenswelt der Menschen zu infiltrieren", schreibt Majid Rahnema, "bediente sich der erste Homo oeconomicus zweier Methoden, die nicht von ungefähr an das Retrovirus HIV und die Methoden der Drogenhändler erinnern"(9): die Zerstörung der Immunabwehr und die Schaffung neuer Bedürfnisse. Der Drogenabhängigkeit zu entkommen wird schwer sein, zumal die Händler - in unserem Fall die transnationalen Unternehmen - ein Interesse an der Aufrechterhaltung unseres Sklavendaseins haben. Doch es ist durchaus denkbar, dass der heilsame Schock der Notwendigkeit uns noch rechtzeitig aufrütteln wird.