Zu den Regimestürzen in Nordafrika

POW

Großmeister
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Während in Syrien die Menschen weiterhin abgeschlachtet werden, hat sich die UN dann doch mal dazu durchgerungen, die Vorgänge in diesem Land in einer Erklärung zu verurteilen....( Wenn´s nicht so unglaublich traurig und feige wäre, könnte man drüber lachen)

http://www.tagesschau.de/ausland/syrien606.html

(Edit:
http://www.welt.de/politik/ausland/...ohner-trotzen-Praesident-Assads-Schergen.html )


Desweiteren steht nun der ach so arme, kranke Mubarak endlich vor Gericht.
Und wirklich viel geändert hat sich seit den Demonstrationen nichts. Die alten Kader agieren noch immer im Hintergrund. Die Preise für Lebensmittel sind gestiegen und Behörden können (oder wollen) ihrer Arbeit nicht mehr nachkommen. In den Straßen der Städte stapeln sich die Müllberge und die Lebensmittelpreise werden nicht reguliert, um die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Desweiteren gab es in den letzten Tagen wohl schon Demonstrationen religiöser Fundamentalisten, ohne dass die Sicherheitsorgane etwas dagegen unternommen hätten; jedenfalls laut den Tagesthemen vom gestrigen Abend. Wobei mich allerdings die folgende Meldung dann doch wieder ein bisschen stutzig macht... -> http://diepresse.com/home/politik/a...n_IslamistenAngriff-und-Demo-fuer-Gottesstaat

http://www.stern.de/politik/ausland...ein-in-der-arabischen-geschichte-1713032.html

Zu den Unruhen in Nordafrika gibt es heute Abend eine Dokumentation im ZDF um 22.15 Uhr ---> http://www.tvmovie.de/Der-zerbrechliche-Traum.84.0.html?&detail=17626927
 

Themis

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Libyer feiern Sieg über Gaddafis Gewaltregime

Für meinen Geschmack gibt es unter den "Rebellen" zu viele vollbärtige religiöse Spinner. Im Gegensatz zu den Medien in Deutschland gibt es in einigen anderen Ländern sehr kritische Berichte über die Regimegegner in Libyen. Libysche Soldaten und Gaddhafianhänger, die auf bestialische Art und Weise unter Allahu akbar rufen gelyncht werden. Und zwar auf eine Art und Weise, die ich mir als wohlbehüteter Schöngeist niemals hätte vorstellen können.
Ich glaube, dass wir Augenzeuge der Installation einer weiteren Theokratie mit Frankreichs Hilfe werden könnten.
Ich habe jedenfalls bei Libyen ein schlechtes Gefühl - und gebe da Westerwelle mit seiner in sämtlichen Zeitungen in Deutschland verrissenen Mahnung vor einer zu schnellen Freude über die jüngsten Ereignisse in Libyen unumwunden recht.
 

Ein_Liberaler

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Die deutsche Berichterstattung über Libyen ist vollkommen kenntnislos, empörend blöde, und, soweit es um Kampfhandlungen geht, nur noch analphabetesk. Man vergleiche nur einmal den deutschen und den englischen Wikipedia-Artikel über den Bürgerkrieg - wobei ich nicht behaupten will, daß der englische Wert hätte. Er hat aber wenigstens Inhalt, wenn auch ungeordneten. Hast Du evtl. eine vernünftige Quelle?
 

Themis

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Ich habe vieles aus diversen Blogs bezogen, wobei da oft auch Verschwörungsschwachsinn mit im Spiel ist, oder diese oft sehr subjektiv, wenig nachvollziehbar und manchmal mit psychisch sehr stark belastenden Videos versehen sind.
Falls man der französischen Sprache mächtig ist, kann das eine recht ausführliche Quelle sein: La Voix De La Libye


Gleiches gilt - abgesehen von den Videos - auch für eine russische Zeitung, die, wie ich finde, oft undifferenziert gegen die NATO Stellung bezieht, aber dennoch einige interessante Interviews und Beiträge hatte. https://rt.com/
Eine US-amerikanische Journalistin hatte eine Bekannte von mir auf Facebook in Bezug auf den Bürgerkrieg in Libyen auf die Arbeit dieser Zeitung aufmerksam gemacht und diese als zuverlässig und unabhängig gepriesen, wobei ich mich frage, in wie Fern das zutreffen kann, wenn die Zeitung, wie diese selbst auf ihrer Internetseite schreibt, aus staatlichen Mitteln finanziert wird.

Desweiteren wird die Situation in Libyen in türkischen Medien sehr intensiv diskutiert.
Fest steht, dass es unter den Aufständischen in Libyen allem Anschein nach eine recht große Fraktion an religiösen Fanatikern gibt.
Wie ich schon schrieb, sehe ich momentan für Libyen keine Entwicklung, die auch nur annähernd jener der osteuropäischen Staaten nach 1989 entsprechen könnte.
Viel mehr wird es wohl zu einem neuen Pulverfaß im Stile des Iraks kommen. Wahrscheinlich geht die NATO, oder meinetwegen irgendeine Schutztruppe unter Franco-anglo-amerikanischer Führung mit Bodentruppen rein, vielleicht sogar unter deutscher Beteiligung. Westerwelle: Einsatz in Libyen möglichDeutsche Soldaten könnten helfen

Es ist eine vertrackte Lage.
 

Ein_Liberaler

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Mein Französisch ist zwar eine Katastrophe, aber viell. ist ja genau das jetzt die Gelegenheit, es mal aufzupolieren. Danke.

(Stämme - das Wort sagt doch schon alles, oder? Wann waren wir in Europa zuletzt in Stämmen organisiert?)
 

Themis

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Richtig.
Libyen ist vermutlich noch zu unterentwickelt und zu verworren für eine funktionierende Demokratie.

Für Ägypten und vor allem Syrien sehe ich da übrigens nicht so schwarz. Diese Länder haben einen höheren Bildungsstand und sind im Allgemeinen mit der Philosophie des Humanismus vertrauter (und ich glaube übrigens nicht, dass die christliche Religion voraussetzung für den Humanismus war, um mal den querverweis zu einem anderen Strang hier zu stellen).

Eine Theokratie in Lybien wäre jedoch fatal für die weitere Entwicklung im arabischen Raum, v.a. für Tunesien und Ägypten.

Ich wage hier sogar die Behauptung, dass der Sarkozy nach dem peinlichen Bild, welches einige französische Regierungsmitglieder während des Aufstandes in Tunesien und Ägypten abgegeben hatten, ihn zu einem dummen Aktionismus animiert hatten.
Wenn ihr Euch erninnert, wurde hier lange Zeit gerätselt, wer denn die Aufständischen in Lybien nun sind. Man hätte dahingehend sich besser auf die Situation dort einstellen müssen, bevor man da losgeschlagen hatte.
Leider hatten viele da noch die (aufgeklärten) Studenten vom Tahirplatz in Kairo oder in der Innenstadt von Tehran vor Augen.
Ich sagte ja schon, vielleicht wird Frankreich am Ende nach 1979 ein weiteres Mal entscheident die Entwicklung im nahen Osten beeinflussen.
Mal sehen. Ich habe da natürlich keinen Anspruch auf das absolute Wissen, neige aber aufgrund einer sorgfältigen Abschätzung der aktuellen Lage - sofern es i.R. meiner Bemühungen möglich war - zu diesem Pessimismus.
 

Ein_Liberaler

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Den Bildungsstand kann ich nicht beurteilen, aber zumindest Ägypten ist ein gefestigtes, bürokratisches Staatswesen, natürlich mit allen "orientalischen" Problemen, aber die gibt es ja auch in Rußland oder auf dem Balkan. Während Ghaddafi sich wohl ebenso wie seinerzeit Saddam Hussein zur Machtausübung archaischer Stammesstrukturen bedient hat, die natürlich nicht wirklich verfaßt und verrechtlicht sein konnten, war das in Ägypten "immer schon" anders. In Syrien herrscht eine kleine Minderheit, ich schätze, daß sie sich ähnlich gefestigter staatlicher Strukturen bedient. Fraglich ist imho nur, ob die erhalten bleiben, wenn die Aleviten weggefegt werden.
 

Themis

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In Syrien fordert das Volkl noch nicht die enthauptung des Staatspräsidenten - trotz seiner Vorgehensweise.
Das sagt auch Gaëtan Vannay
Schweizer beobachtet Assads Schergen
Nach seiner Rückkehr in die Schweiz sagt Journalist Vannay: «In den zehn Tagen habe ich nur friedliche Demonstrationen erlebt.» Jeden Abend hätten sich Hunderte, manchmal auch Tausende Einwohner für die Proteste versammelt und dabei Lieder gesungen. Gaëtan Vannay: «Bei den Demonstrationen habe ich nie eine Waffe gesehen. Die Leute war nie aggressiv.»

In Syrien wird es wichtig sein, wie sich Russland, der Iran, die Türkei und indirekt auch Israel verhalten werden. Nicht nur in Bezug auf Assad, sondern auch für die Zeit danach. Denn all diese Länder haben auf die eine oder andere Weise Möglichkeit der Einflußnahme aufgrund gewisser Bindungen aus der Vergangenheit.

Und ein Religionskonflikt besteht m.W. in Syrien noch nicht. Sogar die ca. 15% Christen leben m.W. recht unbehelligt. Vorausgesetzt, ich leide diesbezüglich nicht an einer selektiven Wahrnehmung.
 

Ein_Liberaler

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Na gut, ich weiß nicht mehr, als man so hört, aber es sollen alle wichtigen Beamten, Richter, Offiziere und so weiter rein zufällig Aleviten sein, und wenn die komplette Elite als korrupt empfunden und ausgetauscht wird, was umso eher zu befürchten ist, je tiefer der Graben zwischen ihr und dem Volk ist, dann könnte das ganze System zusammenbrechen. Zumindest halte ich das für nicht unmöglich.
 

Themis

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Das ist richtig. Ich weiss aber nicht, ob die Syrer unbedingt einen radikalen Kahlschlag in ihren Institutionen durchführen müssen. Das in Syrien ist ja im eigentlichen Sinne kein Religionskonflikt.

von Billerbeck:[...]Welche Rolle spielt denn die Religion bei der Machterhaltung der Staatschefs?

Helberg: Syrien ist eigentlich ein säkularer Staat, es ist ja seit Jahrzehnten sozialistisch geprägt gewesen, und es gibt die Staatsideologie des arabischen Nationalismus, die über allem steht, und die natürlich religiöse und konfessionelle Unterschiede in den Hintergrund treten lässt. Aber die Macht - Sie haben es schon erwähnt -, die konzentriert sich in den Händen einer religiösen Minderheit, die der Aleviten, das ist eine späte Abspaltung im schiitischen Islam, und das bedeutet auch, dass zum Beispiel die Armee und die Geheimdienste sehr geschlossen hinter dem Präsidenten stehen, weil sich dort viele Aleviten in ihren Reihen befinden, das ist also ein zusätzliches Element der Loyalität der Streitkräfte, die hinter dem Präsidenten stehen.

Und parallel dazu muss man sagen, dass zum Beispiel das traditionelle sunnitische Bürgertum in den Städten wenig Macht hat. Die hatten sie vor dem Militärputsch, aber in den letzten Jahrzehnten haben die Sunniten in den Städten, die großen Händlerfamilien, eher wenig Einfluss gehabt, politischen Einfluss, und das wird natürlich sehr kritisch gesehen.

Das Problem in Syrien ist also: Die Macht konzentriert sich bei einer Konfessionsgruppe, diese Konfessionsgruppe zieht damit den Hass auf sich, einfach durch diese autoritäre Machtausübung, durch die Korruption, durch die Vetternwirtschaft, aber es ist kein religiöser Konflikt. Also nicht: Die Sunniten hassen die Aleviten, weil sie sie als Ungläubige empfinden, sondern die Mehrheit der Bevölkerung beobachtet dieses Regime, betrachtet es sehr kritisch, ob es nun Aleviten sind oder nicht. Aleviten werden gehasst wegen ihrer Machtausübung, nicht wegen ihrer Konfession.
Nahost-Expertin Helberg zu den Unruhen in Syrien

Und noch scheint die Mehrheit der Protestler in Syrien löblicherweise besonnen zu sein.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr hätte ich mich über eine Intervention in Syrien anstelle Libyens gefreut.
 

Ein_Liberaler

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Ich wollte auch gar nicht sagen, daß es sich um einen Religionskonflikt handelt. Es ist nur so, daß die politische/administrative Elite sich aus einer bestimmten Bevölkerungsgruppe rekrutiert, die (eben weil sie die Elite stellt) kollektiv unbeliebt ist. Deshalb könnte evtl. aus einem Austausch der Spitzen ein Austausch der gesamten Führung werden, und das könnte das komplette System in Mitleidenschaft ziehen, ähnlich wie beim Sturz der Zarenherrschaft.
 

Themis

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Ja, das verstehe ich.
Die Bolschewiken hatten allerdings auch eine Kulturrevolution "light" durchgeführt.

Wenn die syrische Opposition gut beraten ist, beschränkt sie ihre Strafaktionen zunächst nur auf die Regierung, den Geheimdienst und die Armeeführung (eine allgemeine Wehrpflicht gibt es ja schon). Desweiteren werden die Syrer einen Sondergerichtstribunal o.ä etablieren müssen.
 

Ein_Liberaler

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Die sollten besser Wahrheitskommissionen nach südafrikanischem Vorbild einrichten...

Ergänzung: Ich drücke mich unklar aus. Die Gründe für den weitgehenden Austausch der Elite waren 1917 ideologische und machtpolitische, in Syrien könnte es ganz unideologische Abneigung sein. Ich wollte Rußland lediglich als Beispiel für die möglichen Folgen eines so radikalen Umschwungs heranziehen.
 

Themis

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Ja, verstehe. Und Wahrheitskommission zur Aufklärung offenbar politischer Straftaten klingt gut.
Das wäre für die Araber auch kein Novum, das gab es ja in Ansätzen auch schon in Marokko
Wahrheitskomission Marokko
 

agentP

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Neuling
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Alawiten, nicht Aleviten. Meines Wissens gibt es da einen Unterschied Da hast du recht. Es gibt viele, die dies gleichsetzen.....

Ich bin gespannt, ob und wie lange sich Assad noch an der Macht halten kann. Aber im Moment kann ich mir nicht vorstellen, dass Assad in Syrien die Macht abgibt. Leider!! Positiv für die gesamte arabische Welt ist jetzt aber erstmal, dass Gaddafi in Libyen gestürzt wurde. Und damit haben auch nur wenige gerechnet.
 
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