Ungleichmäßiger Schmerz

Paradewohlstandskind

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Der Schmerz ist nicht gleichmäßig. Er kommt stoßweise. Meist dann, wenn man ihn gar nicht erwartet. Ausgelöst durch eine Belanglosigkeit, durch eine Wortwahl, die er auch benutzt hätte, durch eine Situation, die ihm unangenehm gewesen wäre und jetzt für mich auch unangenehm ist. Dieses unangenehme Gefühl hat positive Auswirkungen, man spürt, dass man noch lebt und das man einen Teil von ihm im Herzen trägt und niemals vergessen wird.

Wie kann man Trauer deklarieren? Wie kann man Trauer ausdrücken? Soll man Trauer unterdrücken? Wie kann man verstehen, dass am nächsten Tag Sat 1 wieder sein bescheuertes Frühstücksfernsehen senden wird?

Der Schmerz ist nicht gleichmäßig. Ich lache noch immer. Manchmal. Ich weine noch immer. Manchmal. Ich lebe noch immer. Immer, doch mein Freund ist tot. Tot in der Badewanne, voll mit Schlaftabletten... Ertrunken! Und ich habe heute schon gelacht... - ...ich habe heute schon mit Schuldgefühlen gerungen... - ...ich habe verkannt, dass es weitergehen muss... - ... ich habe erkannt, dass die Erde rund ist und sich nicht sonderlich von uns Menschen beeindrucken lässt und sich unablässig weiterdreht... Immer weiter... immer weiter... immer weiter...

Wie geht ihr mit der Trauer um? Es ist für mich das erste Mal, dass eine mir so nahestehende Person gestorben ist.
 

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Ich habe so eine Nachricht im Februar dieses Jahre erhalten und schrieb danach diesen Text:

Gestern...

Gestern erfuhr ich, daß Du nicht mehr lebst. Du hast Deinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Du bist schon über eine Woche tot und ich erfuhr es nur so nebenbei.

Wir hatten uns schon mehr als zwei Jahre nicht mehr gesehen und selbst die Zeit davor haben wir uns nur kurz gegrüßt.

Das war alles mal anders. Du saßt im Lateinunterricht neben mir, wir haben ab und an mal was nach der Schule unternommen.
Wir haben zusammen gelacht. Dann gingst Du auf eine andere Schule und wir entfernten uns immer mehr voneinander.
Du warst schließlich nur noch ein weiterer Bekannter, den man halt aus Höflichkeit grüßt.

Und nun bist Du tot. Tot mit 22, nicht durch einen Autounfall, sondern durch Deine eigene Hand.

Ich versuche mich grade zu erinnern, wann wir uns das letzemal sahen und was wir gesprochen haben - ich kann es nicht.

Schon lange ist mir bewusst, daß meine alten Freundschaften kaum mehr gepflegt werden. Keine Frage, ich bin auch dran schuld: Wie oft finde ich Dinge die "wichtiger" sind als meine Freunde.

Ich weiß nicht ob ich über Deinen Tod so traurig bin, oder mehr darüber, daß ein Großteil meiner alten Freunde immer weiter in die Ferne rückt.

Ich hoffe Du hast gefunden was Du gesucht hast. Meine Gedanken sind bei Dir und Deiner Familie. Sie müssen jetzt stark sein.

Aber das müssen wir alle irgendie...

Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder und können Freunde sein, die auch länger füreinander da sind, als ich es für Dich war.

Machs gut Matthias wo immer Du jetzt auch sein magst.



Kai Blitz im Februar 2002

Auch heute erinner ich mich noch desöfteren an ihn, wenn ich an seinem Wohnhaus vorbeifahre.

Würde ich solche Dinge nicht im Netz rauslassen, so würde ich alles in mich hinein fressen. Ich habe zum einen keinen mit dem ich drüber reden könnte, und zum anderen kann ich es auch nicht in RL.

Schäme Dich nicht wenn Du lachst Paradewohlstandskind...
Life is a piece of shit, when you look at it.

Gruß Kai
 

Paradewohlstandskind

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Man muss Selbstmord respektieren.

Ich bin auch 10 Jahre neben diesen Typen in der Klasse gesessen und nach der Schule lebte sich´s etwas auseinander. Plagten Dich auch Schuldgefühle, dass es anders gekommen wäre, wenn man mehr Zeit investiert hätte die Freundschaft aufrecht zu erhalten.

Wie ein Ping-Pong Ball schleudert der Vorwurf >>Du warst nicht da!<<>>Du warst nicht da!<<>>Du warst nicht da!>>Du warst nicht da!<<>>Du warst nicht da!<< durch meinen Kopf, doch ich bin doch auch nur ein Spielball des Flipperspiels Schicksals, welcher woanders hingetrieben wurde, versuche ich mich zu beruhigen und weißß gleichzeitig ganz genau, dass es gelogen ist.

Seit seinem Tod habe ich sogar mehr Lebensfreude gewonnen und das schmerzt tief. Ich erlebe viel intensiver, da ich immer denke, was er alles verpasst.

Es fällt mir schwer mein Gefühle in Worte zu kleiden. Ich breche besser ab.
 

Paradewohlstandskind

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Aber es tut gut, es sich von der Seele zu schreiben. Es tut gut von jemanden wie Dir angehört zu werden, der so vertraut und doch gänzlich anonym ist.

Der erste Text hat mich von einer grossen Last befreit. Erging es Dir ähnlich bei Deiner Gefühlsniederschrift? Du hast Recht im echten Leben ist es schwierig, weil zu viel mitschwingt. Meine Person schwingt mit, die zuhörende Person schwingt mit, die Beziehung zwischen mit und der zuhörenden Person schwingt mit und im Netz sind nur Worte, kalt und nackt. Man muss nicht spielen, man kann sein!

Man muss sich einfach mal auskotzen sonst gären die Gefühle im Magen und man explodiert irgendwann in einem Riesenfurz, der wiederum für Magenverstimmungen anderer sorgt, die sich widerum auskotzen müssen. Mit der Niederschrift und einem wohlgesonnen Leser kann man (kann ich) diesen Teufelskreis durchbrechen.

Dein Text geht mit in meiner momentanen Situation ganz schön an die Nieren und ans Herz.

... aber jetzt geht´s für Parade ins Heiha-Bettchen, sonst wird´s Paradewohlstandskind noch metaphorischer und das hält ja keine Sau aus!

Gut´s Nächtle
 

rorschach

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Trauer = Verlust = Egoistisches Gefühl... Aber egal!!!

Ich hab mehrere Freunde "verloren"... durch Drogen oder Suizid...
Einer erlag sogar (*staun*) einer natürlichen Todesursache! Und Autounfälle zählen eh nicht...
Es bleibt einfach nichts anderes, als es nüchtern hinzunehmen!!!
Alle Versuche, darauf einzugehen um es zu verstehen, sind gut gemeinte Lügen!

Also: Man verabschiede sich von jener Person - frei vom persönlichen Verlust - und wünsche eine gute Reise... oder ein gutes Ende! (wie auch immer) :wink:
 

kalsoom

Meister
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Trauern ist ein Abschiednehmen und es braucht Zeit.
Erinnerungen an den verloren Menschen kommen hoch,
man spricht im Geist noch weiter mit ihm.
So heftig der Schmerz auch ist, er bringt einen wieder
dazu über das Leben und seinen Sinn nachzudenken.
Dankbar und auch erfreut zu sein, das man selbst dem
Leben noch etwas abgewinnen mag, wo der Freund nur
noch Düsterheit und Schmerz sah und damit nicht mehr
leben wollte.

Kalsoom
 

sillyLilly

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Paradewohlstandskind schrieb:
Wie ein Ping-Pong Ball schleudert der Vorwurf >>Du warst nicht da!<<>>Du warst nicht da!<<>>Du warst nicht da!>>Du warst nicht da!<<>>Du warst nicht da!<< durch meinen Kopf,
Das Gefühl kenne ich.
Vor allem um die Weihnachtszeit.
vor 6 Jahren zwischen Weihnachten und Neujahr ist eine Freundin von mir gestorben. Nicht nur irgendeine Freundin ...sondern eine sehr enge. Sie hatte sich ein Jahr lang um meine Kinder gekümmert während ich gearbeitet hatte und war zu einem Familien mitglied für mich und meine Kinder geworden.
Sie hatte mit vielem in dieser Welt zu kämpfen. 42 war sie zu der zeit... und hatte immer wieder phasenweise probleme mit Alkohol .... lange zeit in ihrem Leben schon bevor wir uns kannten. Und ihr körper war ausgebrannt als sie die diagnose Krebs bekommen hat.
Die Chemotherapie hat ihr schon nach der ersten Behandlung den Todesstoch gegeben.
Das letzte mal als wir uns gesehen haben hat sich in meinen kopf gebrannt.
Irgendwie wußte ich da, als wir uns in die Augen gesehen haben, das wir uns das letzte mal mit diesen Augen ansehen werden.
Das war an einem Freitag ....am folgenden Montag sollte sie ins Krankenhaus und wir haben uns verabschiedet mit den Worten ...."Laß uns mal sehen ...vielleicht können wir ja noch am Wochenende zusammen auf den Weihnachtsmarkt gehen."
Ich hatte sie nicht angerufen am Wochenende ...war mit kindern und Familie so beschäftigt.
Es war ihr letzter Wunsch an mich ..... Und ich war nicht da...... War mit meinem eigenen kleinen Leben so beschäftigt.

Ja es war eigentlich ein Gefühl das mich aus Egoismus gequält hat sehe ich heute.
Trauer das ich ihr nicht helfen konnte ... Wut über mich selber das ich Gefühl, das ich hatte beim letzten Treffen, nicht ernst genommen sondern beiseite geschoben habe.
Fragen ob ich ihr bei ihrem Kampf vorher gegen den Alkoholismus auch genug beigestanden habe und ob es hätte anders kommen können wenn ich irgendetwas anders gemacht hätte.
Heute weiß ich das sie diese Fragen und Vorwürfe an dem Ort an dem sie ist, niemals an mich gerichtet hätte.
Sondern das nur ich selber ich mich damit gequält habe.
Aber vielleicht sind sie einfach ein Teil der Trauer ... mit dem kleinen menschlichem Herzen verbunden.
Ich hätte nichts ändern können .... weil es so war wie es war..... und manche Dinge einfach nicht in meiner Hand liegen. Vor allem das Leben eines anderen Menschen. Auch wenn es schmerzt.

Eine andere Freundin war manisch-depressiv und eine Zeitlang in der psychatrie ...
Als ich sie einmal besucht hatte ...wollte sie das ich sie nicht wieder dorthin zurückbegleite ...sondern sie einfach dort alleine sitzen lasse.
Ich wußte das sie sich umbringen wollte und habe es deswegen nicht fertig gebracht.

Sie hat mich immer wieder gebeten und mir gesagt das ich als Freundin doch zu ihr stehen müsse .... wenn sie sich befreien wolle von dem Leben ....warum würde ich als Mensch der sie doch liebt sie nicht ziehen lassen...........für sie wäre das Leben sowieso zu ende ... vor allem dort in der Psychatrie ..........

Ein halbes Jahr später hat sie es dann doch geschafft ....sie hatte tabletten gesammelt, ist heimlich von dort weg und hat sich irgendwo mit alkohol und Tabletten den Rest gegeben.

Dieses Gespräch in dem sie mich praktisch darum bat das ich sie ziehen lasse, werde ich wohl nie vergessen.

Leben heißt auch immer wieder Loslassen

Namaste
Lilly
 

cyberwotan

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vor ca. 4 jahren ist ein sehr enger freund, eigentlich eher sowas wie ein familienmitglied, ein bruder gestorben. als klar war, dass er krebs hat und nicht mehr lange leben wird habe ich etwas sehr wichtiges gelernt. das es nicht so wichtig ist was man sich vornimmt, das all die guten vorsätze zwar wirklich gute absichten sind, aber das sie einfach keinen unterscheid machen. das einzige was zählt, ist die zeit die man zusammen erlebt. ob ich ihm nun gesagt habe, wir sehen uns morgen und wir machen dann ganz viel zusammen oder nicht. er war dafür bestimmt dankbar, aber wichtig war immer nur der augenblick, indem ich wirklich voll und ganz bei ihm war. diese aufmerksamkeit kann man aber nicht erzwingen oder sich herbeiwünschen. sie ist entweder da oder nicht und beides ist gut und ok. reue oder vorwürfe halten dich einfach nur wieder von den leuten ab, mit denen du jetzt deine zeit verbringen könntest...
 
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