Religiöse Beschneidung

Simple Man

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SpiegelOnline: "Beschneidung aus religiösen Gründen ist strafbar"
Es ist ein Urteil mit großer Wirkung: Das Landgericht Köln hat entschieden, dass die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen strafbar ist. Es handelt sich um eine Körperverletzung, auch wenn die Eltern des Kindes einwilligen. Bislang agierten die Mediziner in einer rechtlichen Grauzone.
Erstens ist die Frage, was denn höher wiegen würde - die Religionsfreiheit der Eltern oder das Recht eines Kindes auf körperliche Unversehrtheit - in meinen Augen keine. Natürlich letzteres. Immer. Ich weiß gar nicht, wie man auf die Idee kommen kann, dass das zur Diskussion stünde. Und zweitens finde ich es erschreckend, was der Zentralrat der Juden als "unsensiblen Akt" bezeichnet.

Hoffen wir, dass das Urteil Bestand haben wird.
 

Mr. Anderson

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Mal ein paar Kommentare dazu:

Zunächst einmal wird gerne fälschlicherweise behauptet, dass Beschneidung von der WHO empfohlen wird. Das ist aber bestenfalls eine groteske Verzerrung dessen, was die WHO tatsächlich gesagt hat. Die WHO hat, nachdem in Afrika ein paar sehr kontroverse Studien über die Übertragung von Aids durchgeführt wurden, sich dazu hinreißen lassen, einige Länder, die unter einer schrecklich hohen Aids-Infektionsrate leiden, zu ermutigen, sich mit Beschneidung als möglicher risikosenkender Maßnahme auseinanderzusetzen und sie als Ergänzung eines umfassenden Aidsbekämpfungsprogramms einzusetzen. Mit der westlichen Welt hat das aber überhaupt nichts zu tun, und schon der wissenschaftliche Wert der Studien ist, wie erwähnt, ausgesprochen umstritten.

Zweitens wird gerne behauptet, dass die Beschneidung keinen oder keinen nennenswerten Einfluss auf die sexuelle Sensorik oder Funktion hat, und das anderslautende Aussagen nur anekdotischen Charakter hätten. Das ist ebenfalls eklatant falsch, und schon jemand, der auch nur ein elementares Wissen über den Aufbau und die Funktion der Vorhaut hat, müsste es besser wissen. Die Vorhaut stellt mehr als die Hälfte der gesamten erregbaren Fläche des Penises dar, sie enthält die gleichen hochempfindlichen Nervenenden, die in den Fingerspitzen enthalten sind, die an anderen Stellen des Penises aber kaum vorhanden sind. Allein das wirkt sich nicht nur auf einen Grad der Empfindung, sondern sogar auf eine bestimmte Art der Empfindung aus.
Die Frage nach der Empfindlichkeit des Penises wurde m. E. auch ziemlich exakt in der Doppelblind-Studie Fine-touch pressure thresholds in the adult penis ( British Journal of Urology, 99(4), 864--869 ) dargelegt, wo auch die verschiedenen Bereiche des intakten und des beschnittenen Penises nach Empfindlichkeit untersucht wurden, und das Ergebnis ist ziemlich eindeutig.
(Darüberhinaus fungiert die Vorhaut auch als Gleitmechanismus und schützt die Eichel vor dem Austrocknen. Diesen Effekt versuchen beschnittene Männer oft durch entsprechende Gleitmittelprodukte zu emulieren.)

Besonders grotesk kommt mir der Gedanke vor, der in den Kommentaren zum Spiegel-Artikel anklang, die Beschneidung als Heileingriff anzusehen. Wir sprechen hier doch aber nicht von einer in irgendeiner Form erkrankten Vorhaut, sondern von völlig gesundem, intaktem Gewebe.
Abgesehen davon, selbst wenn irgendwann Probleme mit der Vorhaut auftauchen sollten, z. B. Vorhautverengung, kann man diese heutzutage auch anders behandeln, angefangen mit der Behandlung durch bestimmte Creme-Sorten, bis hin zu mikrochirurgischen Eingriffen, wenn sie denn überhaupt nötig sein sollten.

Und nur mal grundsätzlich überlegt: Selbst wenn wir annehmen, dass ein bestimmter Bevölkerungsanteil es aus irgendeinem Grund vorziehen sollte, beschnitten zu werden, dann ist dies dennoch eine ausgesprochen private und intime Entscheidung; eine, die man nicht schon vorsorglich für jemand anders treffen kann, ohne ihm die Möglichkeit zu lassen, erstmal Erfahrung mit dem Genital im Status quo sammeln zu können. Viele Eltern scheinen ja der Meinung zu sein, sie müssten diesbezüglich eine Entscheidung für ihre Kinder treffen. Meines Erachtens müssen sie das überhaupt nicht, sollten es auch nicht, und es wäre imo auch falsch, ihnen zu suggerieren, dass sie es müssen.
Die so genannte bessere Hygiene ist auch ein Effekt, der, wenn überhaupt, erst später im Leben eintritt, und dafür sind die Männer dann selbst verantwortlich. Und wer eine auch nur akzeptable Hygiene hat, wird damit keine Probleme bekommen; abgesehen davon: Waschen muss man das Ding so oder so, ob beschnitten oder nicht.
Von den Komplikationen, die als Folge der Beschneidung im Säuglings- und Kleinkindalter auftreten können, erstmal ganz abgesehen.

Problematisch ist das Thema der Beschneidung m. E. vor allem noch in den USA. Seit Ende der 40er bis in die 70er Jahre hinein hatte man damals routinemäßige Beschneidung von Neugeborenen empfohlen, weil man sich auch damals auf fehlerhafte Studien verlassen hatte, die völlig überzogene positive Gesundheitseffekte prophezeit hatten. Unter anderem wurde in einer Studie den Probanden empfohlen, die Vorhaut von Kleinkindern zurückzuziehen, was tatsächlich aber schädlich ist, da sie in dem Alter gar nicht zurückgezogen werden soll, zumal sie noch mit der Eichel verbunden ist, und das Zurückziehen zu Reizungen und Infektionen führen kann. Die dadurch entstandene höhere Infektionsrate hatte man dann im Umkehrschluss als Gesundheitsvorteil für beschnittene Jungen gewertet :roll: . (Die 70er Jahre waren in den USA in dieser Hinsicht anscheinend auch für das weibliche Geschlecht ein Wendepunkt, da bis 1977 der größte Krankenversicherer (“Blue Shield”) auch noch weibliche Beschneidungen bezahlt hatte.)
Obwohl diese Prozedur (für Jungen) aber in den USA seit ca. 40 Jahren nicht mehr empfohlen wird, ist sie dort inzwischen eine Art Tradition, und die Eltern informieren sich anscheinend nur unzureichend darüber, was aber auch auf die m. E. inadequaten Informationsmaterialien zurückzuführen ist, die sie hierfür standardmäßig erhalten. In den 50ern und 60ern lag die Beschneidungsrate von Neugeborenen noch bei 70-90%; in den 2000ern war sie USA-weit noch etwas über 50%. Einer der häufigsten von den Eltern angegebenen Gründe für die Beschneidung ihrer Jungen ist übrigens “So he looks like his Dad” :roll:
Weltweit ist die Rate m. E. fallend. Die im Spiegel-Artikel genannte, relativ hohe Zahl von 30% (weltweit, wobei das m. E. allerdings evtl. etwas zu hoch angesetzt ist) kommt vor allem durch die muslimische Bevölkerung zustande. In Australien, GB und Kanada, die Mitte des 20. Jahrhunderts, ähnlich wie die USA, auf den Zug aufgesprungen waren, haben die Prozedur inzwischen überwiegend wieder abgeschafft.

Im Judentum ist die Tendenz nach meinem Eindruck ebenfalls fallend, zumindest gibt es in Israel inzwischen eine gewisse Minderheit, welche die Beschneidung unterlässt; man müsste das vielleicht mal genau nachforschen.
In den USA gibt es zumindest inzwischen das “Reform Judaism”, welches keine Beschneidung mehr vorschreibt.
In Russland und Lateinamerika gibt es, wenn ich mich recht erinnere, schon seit längerer Zeit eine signifikante jüdische Minderheit, welche die Beschneidung unterlässt; das müsste man vielleicht auch nochmal genau nachschlagen.

( Edit: Hier übrigens ein Radiointerview zwischen einem jüdischen Arzt und einem jüdischen Moderator über das Thema: http://www.youtube.com/watch?v=GsrRMTA45_c
Aber vorsicht: der User hat das Video mit einigen grafischen Darstellungen und Kommentaren angereichert. )
 

Telepathetic

Großmeister
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Ich halte das Urteil für richtig. Der Körper des Jungen gehört dem Jungen und niemandem sonst. Er gehört nicht den Eltern und erst recht nicht einer Ideologie, die auf einer Fantasie beruht. Das Argument der Tradition kann ebenfalls nicht greifen, weil Taten, die unrecht sind, nicht durch Wiederholung und gesellschaftliche Akzeptanz zu Recht werden können. Wiederholtes Unrecht bleibt Unrecht und gesellschaftliche Akzeptanz, die auf Unwissen, bzw. auf falschen Vorstellungen und im Falle der Beschneidung negativen Einstellung dem menschlichen Körper gegenüber fußt, kann nicht zu menschengerechtem Recht werden, weil die Voraussetzung für die Tat nicht menschengerecht ist. Und da medizinisch zwingende Gründe, die eine Beschneidung in irgendeinem Fall rechtfertigen würden (Danke, Mr. Anderson für die ausführlichen Erklärungen), auch nicht vorliegen, ist das Urteil genau angemessen.
 

Mr. Anderson

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@Telepathetic: Naja, ich wollte jetzt auch nicht den Eindruck erwecken, dass es nicht irgendeinen Fall gibt, wo die Prozedur aufgrund eines konkreten Krankheitsbildes angemessen wäre. Solche Fälle gibt's sicherlich.
Nur, was eben völlig unnötig ist, und darauf wollte ich hauptsächlich hinaus, ist die (v. a. routinemäßige) Anwendung bei gesunden Jungen in westlichen Industrieländern. So wie ich das aus dem Artikel herauslese, hat das der Sachverständige im Prozess ja ebenfalls verlauten lassen.
Und was mich an der ganzen Debatte ärgert –
Edit: eigentlich kann ich gar nicht alles aufzählen, was mich daran ärgert, da sollte ich vielleicht gar nicht erst damit anfangen.

Vielleicht noch ein paar weitere Videos zum Thema:

http://www.youtube.com/watch?v=7wIew1NFQSE
http://www.youtube.com/watch?v=6BPEWw2Fi5Q

http://www.youtube.com/watch?v=Ceht-3xu84I
(Die Videosequenz einer Beschneidung von 10:20 bis 11:35 möchte man möglicherweise überspringen; Der Vortragende warnt einen aber auch vorher; allerdings nicht immer vor jedem einzelnen Bild)
 

Telepathetic

Großmeister
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Mr. Anderson schrieb:
@Telepathetic: Naja, ich wollte jetzt auch nicht den Eindruck erwecken, dass es nicht irgendeinen Fall gibt, wo die Prozedur aufgrund eines konkreten Krankheitsbildes angemessen wäre. Solche Fälle gibt's sicherlich.
Da habe ich wohl vorschnell geurteilt. Jedenfalls erscheint mir eine Beschneidung medizinisch eher selten notwendig zu sein.
 

Themis

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Ich gebe Mr. Anderson eigentlich in vielem Recht.
Wenn ein gewisses Maß an Hygiene eingehalten wird, ist z.B. für Frauen das Risiko für einen Gebärmutterhalskrebs bei unbeschnittenen Sexualpartnern nicht höher als bei beschnittenen Sexualpartnern. Nicht ohne Grund haben die USA, Kanada, Australien, die Länder Europas (mit Ausnahme von Rumänien, Bulgarien und Polen) und Argentinien eine ähnlich niedrige Rate an Gebärmutterhalskrebs wie die Länder des nahen Ostens. Bezüglich der Empfindung und Erregbarkeit mag das sicherlich stimmen, andererseits habe ich zu keinem Zeitpunkt in meinem Leben das Gefühl gehabt, dass ich i.R. meiner sexuellen Kontakte nicht erregt gewesen wäre.

Ich möchte nur einen weiteren Aspekt anführen:
Die Beschneidung ist sowohl in der jüdischen als auch in der islamischen Religionsgemeinschaft ein seit bestehen eben dieser durchgeführtes Ritual.
Anders als im Koran ist die Beschneidung sogar in der Tora festgeschrieben (im Islam ist die Beschneidung Teil der Sunna und somit streng genommen nicht zwingend vorgeschrieben). Die Beschneidung ist vergleichbar mit der Taufe ein symbolischer Eintritt in die Religionsgemeinschaft.

Natürlich ist es wünschenswert, dass dieser Schritt einvernehmlich mit der in diese Gemeinschaft eintretenden mündigen Person erfolgt (wobei eine Beschneidung nach der Pubertät wesentlich komplikationsreicher ist), zumal eine Beschneidung unabwendbar irreversibel ist.
Das Problem sehe ich hierbei allerdings in der gegenläufigen Betrachtungsweise und Einstellung.
Zwangsläufig wird sich nach diesem Urteil jeder religiöse Jude und Moslem zum wiederholten Male ausgegrenzt fühlen (ein Gesetz, das explizit auf bzw. gegen die eigenen religiösen Praktiken ausgelegt ist, wird bei den meisten nichts anderes hervorrufen können).
Wird die Taufe dann auch erst mit 16 oder 18 erfolgen? Jaja, ich weiss, die Problematik der körperlichen Unversehrtheit ist hier nicht gegeben... aber unabhängig davon sollte dann auch in der christlichen Religion dieser Ritus nicht erst nach Erlangen der Mündigkeit erfolgen? Vielleicht hat ja so manch einer etwas dagegen, dass er ohne seine Zustimmung den Eintritt in das Leben als Christ über sich ergehen lassen musste - auch diese Entscheidung gehört zum Selbstbestimmungsrecht des Individuums, oder sehe ich das falsch?

Und wie praktikabel ist ein Verbot einer religiös-rituellen Beschneidung?
Wie verfährt man mit Eltern, die ihre Kinder während eines Aufenthaltes in Israel oder einem islamischen Land beschneiden lassen (da man sich ja als Arzt in Deutschland nun anscheinend strafbar machen kann, muss das halt im Ausland erfolgen)? Muss der Kinderarzt diese Eltern nach einer U beim Kinderamt melden?
 

Telepathetic

Großmeister
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Themis schrieb:
Wird die Taufe dann auch erst mit 16 oder 18 erfolgen? Jaja, ich weiss, die Problematik der körperlichen Unversehrtheit ist hier nicht gegeben... aber unabhängig davon sollte dann auch in der christlichen Religion dieser Ritus nicht erst nach Erlangen der Mündigkeit erfolgen? Vielleicht hat ja so manch einer etwas dagegen, dass er ohne seine Zustimmung den Eintritt in das Leben als Christ über sich ergehen lassen musste - auch diese Entscheidung gehört zum Selbstbestimmungsrecht des Individuums, oder sehe ich das falsch?
Ich bin schon der Meinung, dass ein Individuum selbst entscheiden sollte, ob und in welcher Religionsgemeinschaft es Teil werden möchte. Ein Baby kann das nicht selbst entscheiden. Kleine Kinder können Entscheidungen treffen, aber die sind geprägt von den vorherrschenden Ansichten in der Familie. Getauft oder nicht getauft, für Kinder sind der Glauben und die Gebräuche ihrer Eltern und deren Gemeinschaft mit Anderen ständig gegenwärtig und von daher ist es wohl eher egal, ob Kinder rituell Wasser in die Haare gesprenkelt bekommen oder nicht. Muslimische und jüdische Kinder sind dementsprechend dem Glauben und den Gebräuchen ihrer Eltern genauso unausweichlich ausgesetzt, mit dem Unterschied eben, dass dem Körper etwas ohne lebensnotwendigen Grund weggeschnitten wird.

Und wie praktikabel ist ein Verbot einer religiös-rituellen Beschneidung?
Wie verfährt man mit Eltern, die ihre Kinder während eines Aufenthaltes in Israel oder einem islamischen Land beschneiden lassen (da man sich ja als Arzt in Deutschland nun anscheinend strafbar machen kann, muss das halt im Ausland erfolgen)? Muss der Kinderarzt diese Eltern nach einer U beim Kinderamt melden?
Und was würde das Kinderamt dann tun? Den Fall einer Strafbehörde mitteilen, die eine Geldstrafe verhängt? Oder den Familien gar das beschnittene Kind wegnimmt? Würden diese Kinder dann alle in Heime kommen? Würde man Familien, die wiederholt gegen das Beschneidungsverbot verstoßen, des Landes verweisen? Praktikabel ist das Ganze nicht wirklich, aber immerhin kann ein Urteil eine Debatte auslösen, in der die unterschiedlichen Werte und Lebensweisen betrachtet werden können.
 

NormaJean

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Ungeachtet dessen, ob ich das Gesetz nun gut oder schlecht finde, habe ich die Befürchtung, dass manche Eltern, die ihren Sohn aus religiösen Gründen beschneiden lassen wollen und die bislang die Möglichkeit hatten, die Beschneidung von einem Mediziner unter entsprechenden hygienischen Bedingungen inkl. Nachsorgeuntersuchung durchführen zu lassen, sich nun an irgendwelche Laien wenden, die die Prozedur mal eben in einem Hinterzimmer zuhause durchführen.
Die körperliche Unversehrtheit der Kinder wird in dem Fall nicht wie beabsichtigt geschützt, sondern sie werden u.U. gesundheitlichen Risiken ausgesetzt.

Ferner besteht, wie Themis schon schrieb, die Möglichkeit, den Eingriff im Ausland vornehmen zu lassen oder man könnte eine medizinische Notwendigkeit vorzutäuschen oder herbeizuführen.
Vergleichbar vllt. mit Gesetzen gegen Abtreibung, die einen Teil der Frauen in Schwangerschaftskonfliktsituationen zu verzweifelten Mitteln greifen lassen.

Was also tun? Aufklärende Gespräche mit den Eltern suchen anstatt ihnen ein Verbot um die Ohren zu hauen? So einfach wird es wohl nicht werden, eine Jahrhunderte alte Tradition abzuschaffen...
 
G

Guest

Guest
"Aufklärende Gescpräche" mit religiösen Spinnern, Extremisten und Fanatikern?

Viel Vergnügen :read:
 

Mr. Anderson

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bzgl. Taufe:
Obwohl es meines Erachtens diskutabel ist (und auch diskutiert wird), inwieweit man schon kleine Kinder in eine Religionsgemeinschaft integrieren kann, wird die Taufe m. E. nie eine vergleichbare Kontroverse entfachen können, zumal das Ritual – im Gegensatz zur Beschneidung – an sich völlig folgenlos ist. Es gibt hier, wie schon festgestellt, keine Konsequenzen für die Physis des Kindes; an sich auch keine sonstigen Folgen, wie für die neurologische, geistige, oder weltanschauliche Entwicklung. Diese hängt vielmehr später von der konkreten Erziehung – worüber man natürlich wiederum diskutieren kann – durch die Eltern und die Gemeinschaft ab. Auch hängt davon ab, welche Bedeutung der Taufe später überhaupt zugemessen wird, seitens des Kindes. Das Ritual für sich genommen könnte es je nach Situation ja genauso gut wieder vergessen, da es keine Spuren hinterlassen hat.


bzgl. Praktikabilität:
Ich würde ebenfalls erwarten, dass ein Verbot grundsätzlich dazu führen wird, dass das Ritual verstärkt im Ausland durchgeführt wird. (Wobei: Die Beschneidung bei Jungen wird nach jüdischer Tradition ohnehin nicht im Krankenhaus von einem Arzt durchgeführt, sondern vom sogenannten Mohel in einer religiösen Zeremonie.)
Ein ähnlicher Effekt – wobei ich nicht weiß, in welchem Ausmaß – allerdings bezogen auf weibliche Beschneidungen, passiert zur Zeit in den USA, wo diese seit 1996 verboten sind. Das Verbot betrifft dort aber nicht nur die (uns vermutlich bekannte) entsetzliche Art von Beschneidung, wie sie im afrikanischen Busch praktiziert wird, sondern es verbietet das ganze Spektrum an möglichen Ritualen, d. h. inklusive desjenigen, das aus einem einmaligen oberflächlichen Stich mit einer Nadel besteht, um einen Tropfen Blut zu erhalten. Es wurde in diesem Zusammenhang daher auch kürzlich in den USA debattiert, ob man nicht letzteres (weniger invasive) Ritual zulassen sollte, damit die Eltern ihre Kinder dafür nicht extra nach Afrika verfrachten.
Und dazu grundsätzlich bemerkt: Eine Debatte über eine gesetzliche Beschränkung, die sich danach richtet, wie invasiv das Ritual ist, würde ich zumindest noch bereit sein zu führen, wobei ich allerdings dennoch dafür eintreten würde, die Erheblichkeitsschwelle für Jungs und Mädchen bei Null anzusetzen.

Die Frage bei so einem Gesetz ist m. E. aber nicht nur, ob es überhaupt zu Problemen bei der Umsetzung kommt, sondern ob es insgesamt etwas bringt, und mit welcher Art Problemen wir es vorziehen würden umzugehen: denen, die ohne Verbot bestehen, oder denen, die mit einem Verbot bestehen. Was mich betrifft, könnte ich zumindest schon aus Gewissensgründen kein Gesetz unterzeichnen, das ein Ritual, das zu diesem Grad invasiv ist, legitimiert.

Das Gesetz, aufgrund dessen das dt. Gericht in diesem Fall entschieden hat, ist übrigens kein neues, sondern das ganz normale Strafgesetzbuch, genauer: der Paragraph über Körperverletzung. Das Gericht hat lediglich (erstmals) festgestellt, dass kein ausreichender Rechtfertigungsgrund für dieses Ritual besteht.

Dass sich das Ritual in der Praxis von heute auf morgen abschaffen lässt, glaube ich übrigens auch nicht. Ich bin allerdings vorsichtig optimistisch, dass einige Gemeinden abrahamitischer Religionen die Meinung teilen, dass ihre Religionen von Zeit zu Zeit auch mal einen Schritt nach vorne machen müssen und erkennen müssen, dass gewisse frühzeitige Gesetze und Rituale nicht mehr zeitgemäß und mit modernen Werten nicht mehr vereinbar sind.
 

Mr. Anderson

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Nachtrag:
Der BVKJ (Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte) hatte am 12. Dezember, als das Gesetz zur Regulierung der Beschneidung verabschiedet wurde, folgende Stellungnahme abgegeben:
http://www.kinderaerzte-im-netz.de/bvkj/aktuelles1/show.php3?id=4409&nodeid=26&nodeid=26

Daraus:
Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) ist enttäuscht, dass eine Mehrheit im Deutschen Bundestag Jungen nicht ebenso wie selbstverständlich den Mädchen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit einräumt (...)

Dr. Wolfram Hartmann, BVKJ-Präsident: „(...) Wir appellieren an alle Ärztinnen und Ärzte, sich nicht aktiv an medizinisch unnötigen Beschneidungen zu beteiligen. Zum anderen werden wir auch in Zukunft nicht nachlassen, uns zusammen mit fortschrittlichen Juden und Muslimen für symbolische unblutige Beschneidungen als Aufnahmeritual in die Religionsgemeinschaften einzusetzen. Zahlreiche jüdische und muslimische Eltern unterstützen uns schon heute dabei und sind uns dankbar, dass wir ihnen eine Stimme geben und uns für sie und ihre Kinder einsetzen.“
Darf man Hoffnung haben?

Ergänzung: Dem vorausgegangen war bereits eine Stellungnahme der DAKJ (Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin) zum Gesetzesentwurf (am 1. 10. 2012).
 

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