ai- Jahresbericht 2003
Berichtszeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 2002
Folterungen und Misshandlungen
Es wurde weiterhin über Folterungen berichtet, wobei zunehmend Methoden Anwendung fanden, die keine sichtbaren Spuren am Körper hinterlassen. Häftlinge mussten Folterungen zum Beispiel in Form von Elektroschocks, dem Aufhängen an den Armen und der falaka (Schläge auf die Fußsohlen) ertragen. Weitere, laut Berichten regelmäßig angewandte Folter- und Misshandlungsmethoden bestanden in schweren Schlägen, dem sexuellen Missbrauch, dem Abspritzen mit kaltem Wasser aus Hochdruckstrahlern, dem Nacktausziehen während der Verhöre, Todes- und Vergewaltigungsdrohungen sowie sonstigen psychischen Folterungen wie Schlaf- und Nahrungsentzug und die Verweigerung des Toilettengangs. Nach vorliegenden Meldungen wurden inhaftierte Frauen und Mädchen häufig sexuell missbraucht oder es wurde ihnen die Vergewaltigung angedroht; in einigen Fällen blieb es nicht bei der Androhung.
Zu den Opfern zählten Bürger, die pro-kurdischer, islamistischer oder linksgerichteter Aktivitäten verdächtigt wurden oder die sich für die Aufnahme der kurdischen Sprache in die Lehrpläne einsetzten. Andere waren unter dem Verdacht strafbarer Handlungen oder allein aus dem Grund festgenommen worden, weil sie den Anordnungen der Sicherheitskräfte nicht Folge geleistet hatten. Unter dem Verdacht des Diebstahls oder des Einbruchs verhaftete Personen ? darunter zahlreiche Kinder ? sahen sich im Gewahrsam regelmäßig Schlägen ausgesetzt.
Hamdiye Aslan, eine 37 -jährige Kurdin und Mutter von fünf Kindern, wurde im März des Berichtsjahres in Mardin in der Provinz Kiziltepe festgenommen und zwei Tage lang im Anti- Terror-Trakt der Polizeizentrale von Mardin in Haft gehalten. Berichten zufolge wurde sie entkleidet und mit einem Schlagstock anal vergewaltigt, wobei man ihr die Augen verbunden, sie bedroht und verhöhnt hat, als sie die Täter anflehte, von ihrem Tun abzulassen. Hamdiye Aslan blieb im Mardiner Gefängnis knapp drei Monate lang inhaftiert, bis die Behörden sie für die Dauer des Prozesses auf freien Fuß setzten. Medizinische Gutachten bestätigten ihre Foltervorwürfe. Der Staatsanwalt von Mardin leitete eine Untersuchung gegen fünf Polizeibeamte ein, die Hamdiye Aslan gefoltert haben sollen, und die türkische Ärztekammer strengte ein Verfahren gegen zwei Ärzte an, die zuvor ausgesagt hatten, dass die Frau nicht gefoltert worden sei.
Am 3. April wurde Tekin Demir zusammen mit seinem Sohn um 5 Uhr morgens unter dem Verdacht der Unterstützung einer illegalen Organisation in der Wohnung der Familie festgenommen und zwei Tage lang im Anti-Terror-Trakt der Polizeizentrale von Ankara in Gewahrsam gehalten. Während der Haft wurden Tekin Demir Berichten zufolge die Augen verbunden, er wurde nackt ausgezogen und mit Elektroschocks gefoltert, mit kaltem Wasser abgespritzt, geschlagen und bedroht. Seine Peiniger rissen ihm Kopfhaare und den Schnurrbart aus, verbrühten seine Finger mit heißem Wasser und stellten sich auf seine Hände, während er am Boden lag. Als ihn ein Arzt am Ende der Haft untersuchte, wurden seine Verletzungen nicht notiert. Nachdem Tekin Demir jedoch offiziell Beschwerde eingereicht hatte, wurden bei einer gerichtsmedizinischen Untersuchung zahlreiche Verletzungen und sonstige körperliche Beschwerden diagnostiziert.
Rechte von Minderheiten
Im September ratifizierte die Türkei das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung.
Ungeachtet von Rechtsreformen, mit denen eine Lockerung der Einschränkungen für die öffentliche Kundgabe kurdischer Identität erzielt werden sollte, konnten Beobachter in der Praxis keine wesentlichen Verbesserungen erkennen. Im August erfolgte eine Gesetzesänderung, mit der Sprachkurse und Radio- und Fernsehsendungen in Sprachen erlaubt wurden, die »traditionsgemäß von türkischen Bürgern im täglichen Leben verwandt und gesprochen werden«. Eine Woche nach Verabschiedung dieses Gesetzes wurde jedoch der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft in Diyarbakir vom Erziehungsministerium von seinem Lehrerposten entbunden, weil er Berichten zufolge in einer Rede Sendungen in der »ersten Sprache« befürwortet hatte. Offensichtlich genehmigten die Behörden keine Kurse in kurdischer Sprache. Zudem wurden Tausende Personen verhaftet, weil sie Petitionen unterschrieben hatten, in denen sie das Recht einforderten, in kurdischer Sprache unterrichtet zu werden. Mehrere der Festgenommenen sollen gefoltert oder misshandelt worden sein, gegen einige erhoben die Behörden wegen Unterstützung der bewaffneten Oppositionsgruppe PKK oder ihrer Nachfolgeorganisation KADEK Anklage. Nach den Gesetzesänderungen wurden Berichten zufolge einige der Angeklagten freigesprochen, während gegen andere weiterhin Verfahren anhängig waren.
Im Laufe des Jahres 2002 wurden mehrere Prozesse gegen Eltern eröffnet, die für ihre Kinder kurdische Namen eintragen lassen wollten.
Abdullah Yagan wurde im Juli vom Staatssicherheitsgericht in Diyarbakir zu einer Haftstrafe von 45 Monaten verurteilt, weil er in seinem Minibus Passagieren kurdische Musik vorgespielt hatte.
Im Juli strengte die Staatsanwaltschaft in Siirt ein Gerichtsverfahren gegen Eltern an, um sie zu zwingen, die kurdischen Namen ihrer Kinder abzuändern. In diesem Fall ging es um die Kinder von 19 Familien, die in der Zeit zwischen dem 10. Juli 1997 und dem 19. März 2002 geboren worden waren.
Elf Lehrer und Lehrerinnen und ein Ingenieur wurden am 10 . Mai in Gewahrsam genommen und Berichten zufolge von der Polizei gefoltert und misshandelt, wobei sie unter anderem mit in kurdischer Sprache geschriebenen Büchern geschlagen worden sein sollen. Das Staatssicherheitsgericht sprach sie am 5. September von der Anklage der Unterstützung einer illegalen Organisation frei. Allerdings wurden nach einer internen Untersuchung durch das Erziehungsministerium zehn der Lehrer und Lehrerinnen in andere Regionen des Landes versetzt, weil »in ihren Wohnungen kurdische Bücher gefunden worden waren«.
Menschenrechtsverteidiger
Menschenrechtsverteidiger mussten weiterhin Schikanen, Einschüchterungsmaßnahmen und Strafverfolgungen hinnehmen.
Im Zusammenhang mit ihren Menschenrechtsaktivitäten stellten die Behörden Osman Baydemir, den Leiter des Menschenrechtsvereins IHD in Diyarbakir, und Eren Keskin, Leiterin des IHD-Büros in Istanbul, unter Anklage. Der Vorsitzende des IHD-Büros in Bingöl, Ridvan Kizgin, wurde im Januar festgenommen, nachdem er an einer Gedenkfeier für zwei Vertreter der legalen pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei HADEP teilgenommen hatte, die im Januar 2001 dem »Verschwindenlassen« zum Opfer gefallen waren. Ridvan Kizgin kam im März für die Dauer seines Prozesses vorläufig aus der Haft frei.
Nach einer Razzia im September 2001 im Büro der Türkischen Menschenrechtsstiftung in Diyarbakir wurde der Leiter des Büros, der Anwalt Sezgin Tanrikulu, angeklagt, ohne Genehmigung ein Gesundheitszentrum eröffnet zu haben. Im April 2002 sprach ihn ein Gericht von dieser Anklage frei. Im Oktober 2002 wurde jedoch ein neuer Prozess gegen Sezgin Tanrikulu und auch gegen Eren Keskin eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft legte beiden zur Last, die türkischen Streitkräfte und die Sicherheitsdienste beleidigt zu haben, weil sie auf einem Menschenrechtssymposium, das vom IHD-Büro in Diyarbakir im Dezember 2001 organisiert worden war, erklärt hatten, dass in der Türkei nach wie vor systematisch gefoltert werde.
Berichte und Missionen von amnesty international
Berichte
Turkey: Constitutional amendments ? Still a long way to go (ai-Index: EUR 44/007/2002)
Turkey: Torture and prolonged detention in the Region under State of Emergency (ai-Index: EUR 44/010/2002)
Turkey: Systematic torture continues in 2002 (ai-Index: EUR 44/040/2002)
Missionen
Im März, Mai, Juni und September besuchten Delegierte von amnesty international die Türkei, um vor Ort die Menschenrechtssituation zu recherchieren und um als Prozessbeobachter an Gerichtsverhandlungen teilzunehmen.
Quelle:
http://www2.amnesty.de/internet/dea...c2400a2b186c0fafc1256d3200498b55?OpenDocument