Herr Gade hat mit dem Satz
Die Zeit schrieb:
»Man darf nicht wie in Deutschland den großen Wurf versuchen, sondern muss ständig kleine Schritte machen.«
Recht. Aber wie diese Reformen aussehen müssen, das ist wieder eine ganz andere Frage. Ihr seht, ich will spät des Abends noch auf ein weites Themenfeld ausrücken ...
Hartz IV war nötig, um die Sozialsysteme zu entlasten. Doch warum mussten die Sozialsysteme überhaupt entlastet werden? Aufgrund von zu hoher Arbeitslosigkeit. Und woher rührt Arbeitslosigkeit? Sie hat viele Ursachen. Einerseits wäre da eine schlechte bzw. nicht vorhandene Ausbildung, die mir den Zugang zu einem Beruf verwehrt; es könnte allerdings auch möglich sein, dass ich eine Altersgrenze überschritten habe, die mich nicht mehr fähig für den Beruf erscheinen lässt, obschon ich es noch bin. Eine weitere Möglichkeit wäre die Ausrottung meines Berufsstandes durch Technik und Maschinenbetrieb; als letztes soll noch der fehlende Wille zur Arbeit genannt werden, den ich jedoch als eher geringen Faktor in unserer deutschen Arbeitslosengemeinschaft ansehe.
Woher rührt nun schlechte Bildung? Es gibt zwei Arten schlechter Bildung. Die eine Art ist die nicht vorhandene Bildung, die andere Art die veraltete Bildung. Wer keinen Schulabschluss hat, wird meistens als bildungslos angesehen, unabhängig davon, ob er es ist oder nicht. Wer in der unteren Handwerkerklasse beschäftigt ist oder war, der wird oft mit einer veralteten Bildung assoziiert, da seine Tätigkeit womöglich schon leichter in Kombination mit einer anderen oder durch Maschinen erledigt werden könnte. Beide Formen von fehlender Bildung behindern den Einstieg in den Arbeitsmarkt und belasten somit die Sozialsysteme.
Wie beugt man dem vor? Ich würde sagen, eine bundesweite Bildungsreform muss her. Jedoch hat die nichts mit dem Streichen von Schuljahren wie hier in Bayern oder gar dem Abschaffen von Schulformen, wie von der Bundesbildungsministerin gefordert, zu tun, sondern bezieht sich schlicht und ergreifend auf die Einstellung der Schüler zur Bildung und zum Lernen. Pädagogen, sowohl Kindergärtner wie auch Lehrer, müssen ihren Schützlingen vermitteln können, warum sie das lernen, was sie lernen, und sie müssen Zeit für sie haben. Heißt im Klartext: Verkleinerung der Klassenstärken und Änderung des Lehrplans. Der Stoff, der den Schülern beigebracht wird, muss einen Bezug zur Realität haben und das muss den Schülern auch klar werden. Ich bin, obwohl nicht besonders begabt in Mathematik, immer ein Fan von Textaufgaben, weil ich an diesen erkennen kann, worum es geht; während ich die Aufgabe "Berechne den Streckfaktor S, mit dem die Gerade GZ auf G'Z gestreckt wird" eher als wildes Konstrukt erkenne ... Geometrie steckt überall - aber woher soll das ein Schüler wissen? In den Mathematikunterricht gehört eine gehörige Portion Praxis, um die doch desöfteren vorhandene Langeweile der Theorie zu überdecken. Praxisorientierter Unterricht nennt sich das. In Verbindung mit der stärkeren Betreuung der Schüler, wobei es hier insbesondere um die schwächeren Mitglieder der Klassengemeinschaft geht, hebt das den Bildungsstandard meines Erachtens ungemein, weil ich Erlerntes wiedererkenne, wenn ich nur auf die Straße sehe und ein Auto anhält - die Reibungskraft aus der Physik, die Aerodynamik der Bauweise, die Wahrscheinlichkeitsrechnung (wie wahrscheinlich wird dieses Auto in diesem Moment einen Motorschaden erleiden?
) und so weiter.
Das nächste von mir angesprochene Problem war die Altersgrenze. Oft, gar allzu oft tönt es aus allen Medien, man sei mit 35 schon zu alt für den Beruf und zu schlapp für die Anforderungen. Dabei baut unser deutscher Qualitätsruf auf dem auf, was die Alten besitzen: Know-How und Erfahrung. In Japan gilt das Senioritätsprinzip; die Ältesten entscheiden, ob etwas gemacht wird oder nicht. Wie ein radikaler Jugendlichkeitskapitalismus endet, durften wir in den 90ern sehen; Jungmanager fuhren Unternehmen an die Wand, kompensierten ihr Versagen mit Entlassungswellen und setzten sich mit einer gehörigen Abfindung ab. Das gilt nicht nur für Großunternehmen; auch Familienbetriebe leiden am Anfang unter der Unerfahrenheit des neuen Inhabers und profitieren erst später vom Tatendrang und den frischen Ideen.
Dieser Jugendlichkeitswahn auf dem Arbeitsmarkt hat auch mit der Einstellung der Manager zur Arbeit zu tun; die wollen sich keinen "Greis" einstellen, der womöglich am Ende noch alles besser weiß (und das ist im positiven Sinne gemeint) und den Betrieb - ganz entgegen der momentanen Mentalität - auf langfristiges Überleben umstellen möchte, obwohl der Chef doch seinen Gewinn jetzt haben möchte. An Weihnachten ist mir wieder die liebenswerte Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens untergekommen, besonders die Hauptfigur Ebenizer Scrooge (wenn er sich so schreibt) erinnerte mich an die derzeitige Arbeitsmarktsituation; anstatt dass sich Scrooge die erfahrensten Mitarbeiter aussucht, nimmt er lieber die billigsten, die sich auch noch den Weihnachtsfeiertag wegnehmen lassen. Exakt so sieht es derzeit aus; Erfahrung und Wissen werden gegen Preisgünstigkeit und Angst getauscht. Perfekt passend zu dem Hype um die schnellen Gewinne durch Aktienkäufe und -verkäufe.
Das wiederum ist ein Problem, dessen man sich auf anderer Ebene ganz einfach entledigt hat. Behindertenquote sage ich da nur. Behinderte arbeiten sicherlich genauso effektiv wie andere, sofern sie für die Ausübung des Berufs geeignet sind, das Problem bei ihnen waren die Vorurteile; ältere Arbeitnehmer arbeiten vielleicht sogar effektiver als die Jungspunte, weil sie wissen, was sie tun; blöderweise scheint sich diese Tatsache bei vielen Chefs, vor allem von größeren Unternehmen, aus dem Bewusstsein verabschiedet zu haben. Deswegen würde ich schlicht und ergreifend eine Altersquote einführen; in jedem Teilbereich eines Unternehmens - in einer Autowerkstatt beispielsweise in der Werkstatt, im Büro und im Verkauf - muss zumindest ein Arbeiter mit einem gewissen Alter eingestellt werden, um seine Arbeitserfahrungen mit seinen jüngeren Kollegen zu teilen und um die Arbeitslosigkeit unter älteren Menschen zu verkleinern. Schaden wird es keinem Unternehmen, sofern man bei der Auswahl genauso gut hinguckt wie bei den jüngeren Teilnehmern.
Mein dritter Punkt war das Verschwinden von Berufszweigen durch technischen Fortschritt. Der Fortschritt lässt sich durch kein Gesetz bremsen, jedenfalls nicht in einem demokratischen und kapitalistischen System. Im Kommunismus sah das Ganze ja anders aus, aber so weit soll es gar nicht erst kommen. Jedoch wäre es möglich, durch geschickte Umschulungen die Betroffenen in einen verwandten oder direkt in den neu entstehenden Berufszweig einzugliedern. Ein Beispiel; die Setzer, die vor dem Auftreten von Schreibmaschinen für Schriftarbeiten zuständig waren, hatten durch ihre Tätigkeit große Erfahrungen mit routinierter und Aufmerksamkeit erfordernder Arbeit gesammelt. Welcher Berufsstand erfordert das noch? Die Arbeit am Laufband beispielsweise. Dort müssen so viele Einzelobjekte kontrolliert und, falls nötig, herausgegriffen oder zusammengesetzt werden, dass ein hoher Konzentrationsaufwand und viel Routine nötig ist. Genau das Richtige also für unsere Setzer.
Diese Eingliederung in neue Berufszweige erhöht natürlicherweise den Konkurrenzdruck in der Sparte, aber das muss nicht immer schlecht sein. Zur Zeit läuft es auf Lohndumping heraus, was nicht zu begrüßen ist; es kann aber auch die Konkurrenz unter den Mitarbeitern fördern, so dass beispielsweise der Setzer durch ein potentielles schnelleres Auge dem ehemaligen Bandarbeiter überlegen ist. Dieser Bandarbeiter wird sich natürlich umso mehr anstrengen, um seine Arbeit nicht an den Setzer abgeben zu müssen. Und wahrlich, hier in Deutschland muss die Begründung gut sein für eine Kündigung; deswegen sehe ich auch keine große Gefahr bei der Arbeitsplatzsicherheit. Nicht größer als die jetzige Gefahr jedenfalls, seinen Arbeitsplatz zu verlieren.
Der zuletzt angeschnittene fehlende Wille zur Arbeit wird allein durch die Hartz IV-Reform angepackt; die Zusatzarbeiten, auch Ein Euro-Jobs genannt, sollen dafür sorgen, dass Arbeitslose in, wenn auch geringen/geringes, Lohn und Brot kommen. Ein Vermittler soll helfen, passende Arbeiten zu vermitteln. So wird der Wille entweder bestärkt oder aufgezwungen - und ich finde, eine Solidargemeinschaft, die dem jeweiligen Arbeitslosen das Überleben sichert, hat das Recht darauf, auch eine gemeinnützige Arbeit von ihm zu verlangen, zumal sie diese ja auch noch bezahlt.
Wenn's nach mir ginge, gäbe es bei uns noch viel, sehr viel zu reformieren; und Reformscheue ist momentan auch fehl am Platze. Wir brauchen Mut zum Wandel, wie unser Bundespräsident Horst Köhler in seiner vorgestrigen Rede angemerkt hat. Uns geht es noch gut, und durch eine geschickte Bewegung in die richtige Richtung können wir das erhalten, dessen bin ich mir sicher, sonst würde ich hier nicht so ellenlange Beiträge verfassen ... das Problem ist bloß, dass der Reformzug manchmal in die falsche Richtung fährt. In solchen Fällen muss deutlich gezeigt werden, dass es so nicht geht - die "Montagsdemos" gegen Hartz IV, welche, nachdem das Thema in den Medien kräftig angeheizt worden war, ja schnell wieder abgeebbt waren, vermutlich nicht ohne Grund, sind ein gutes Beispiel dafür, dass eben nicht alle Neuerungen schlecht sind. Was kommen muss, wird kommen.
Natürlich darf man hierbei auch nicht die Einzelfälle vergessen, die durch das Raster des Systems rutschen. Ich habe schon desöfteren mehr Personal in den Amtsstuben gefordert, das nicht nur Anträge kontrolliert, sondern zu den Leuten fährt und sich die Situation ansieht. Situationsbedingtes Entscheiden bringt mehr als ein Formular ! In der Regel kann so ein standardisiertes Blatt Papier schon viel bewirken, aber ich bin der festen Überzeugung, in einer Solidargemeinschaft müssen alle solidarisch behandelt werden, und nicht nur der Mainstream. Beschwerden einlegen kann man immer; ob es nun ein Formfehler ist oder gravierender, muss natürlich angemerkt werden. Gleiches Recht für alle sollte auch bei Hartz IV garantiert werden und ich hoffe, dass es schlussendlich eben so kommt.
Zum Schluss bleibt noch anzumerken, dass das natürlich nur Teile des Ganzen sind, eines reformbedürftigen Ganzen; ein Sozialsystem aus Bismarcks Zeiten, das in den fetten Jahren auf Biegen und Brechen erweitert wurde, ein preußischer Beamtenstaat, der noch immer zahlreiche Vergünstigungen genießt; eine Gesellschaft, in der aus dem Verdienst ein so großes Geheimnis gemacht wird wie nicht einmal aus dem letzten Geschlechtsverkehr. Ein Volk, das sich von RTL und Bildzeitung diktieren lässt und langsam, aber sicher das Denken einstellt. Auch hier muss angesetzt werden, nicht nur beim Sozialsystem; denn die socii, die Bundesgenossen, bleiben es nur dann, wenn die Umstände stimmen. Und ein Licht brennt leider nicht besonders lange, wenn nebenher ein Schneefall herrscht ...