Die „Bild-Zeitung" ist tatsächlich ein Kampfblatt, aber nicht eines für die Interessen des kleinen Mannes, sondern ein Kampfblatt, mit dem die Herrschenden gegen die Massen kämpfen und gleichzeitig die Massen hindern, gegen die Herrschenden zu kämpfen. Und wenn wir uns gegen Springers Massenpresse organisieren, so kämpfen wir nicht dagegen, weil sie einseitig berichtet und Emotionen weckt, sondern wir bekämpfen sie, weil sie einseitig im Interesse der Herrschenden berichtet und Emotionen im Interesse der Herrschenden weckt, statt einseitig im Interesse der Massen.
Die Springerpresse ist nicht der Anwalt der arbeitenden Massen, sondern ihr Feind. Sie hat die Funktion - gleichgültig ob ihre Redakteure das wissen oder nicht -, über die bestehenden Klassengegensätze den Schleier eines harmonischen Volksganzen zu legen und für die weitere Ausbeutbarkeit der Leser zu haften. Besser noch als durch die Verfälschung der politischen Bedürfnisse der Massen erreicht die „Bild-Zeitung" dieses Ziel dadurch, dass sie diese Bedürfnisse schon im vorpolitischen Raum zerstört. Ersparen wir uns hier eine Analyse des Alptraums, den die „Bild-Zeitung" in ihrem Text- und Bildteil täglich inszeniert. Wer außer Springers Diplom-Psychologen hat noch die Kaltblütigkeit, diese psychologischen Gewalttaten säuberlich zu sezieren: wenn Sexualverbrechen von Sadisten nachempfunden werden und direkt in der Spalte daneben halbnackte Fotomodelle einen Leser, der sie ein Leben lang anstarren, aber nie besitzen wird, zum Sexualverbrechen animieren, wenn durch ausführliche Mord-Berichte Mordlust und Sadismus aufgestachelt werden, um mit den verbotenen Wünschen und den daraus entstehenden Schuldgefühlen die Selbstunterdrückung zu steigern, wenn Katastrophen beschrieben werden, um Streiks zu verhindern, Erdbeben, um die Notstandsverfassung vorzubereiten, wenn der Krieg gegen die Befreiungs¬bewegungen in der dritten Welt zum Krieg gegen die Befreiungswünsche in der ersten Welt benützt wird, wenn jeder neue Feind mit heimlichem Triumph dem Leser vorgestellt und als Beweis für die Unabänderlichkeit seiner Lage in seine Phantasie gemogelt wird. Anlässlich eines Wettersturzes in Berlin triumphierte die „BZ": „Berlin hat einen neuen Feind: den Matsch."
Es ist auch kein Geheimnis, dass die „Bild-Zeitung" an den Drohbildern, die ihr die kapitalistische Wirklichkeit zuliefert, noch nicht genug hat, und einfach welche hinzuerfindet. [. . .] Die Berichte über Morde, Verkehrsunfälle, Naturkatastrophen sind die Bomben, die Springer täglich in das Bewusstsein seiner Leser wirft.
Dieselbe Struktur zeigen die Berichte über Politik. Ein gutes Beispiel für den Versuch, die Welt dem Leser als einen universalen Bedrohungszusammenhang darzustellen, ist ein Bericht in der „BZ" über den amerikanischen Krieg in Vietnam: „Die innerlich zerstrittene Bevölkerung Südvietnams ist nicht gerade kriegsbegeistert. Ihr stehen die glänzend geführten und zu allem entschlossenen Vietcong gegenüber. Diese werden von Nord-Vietnam rnit Menschen, Waffen und Ausrüstung versorgt. Und Nord-Vietnam wieder ist der verlängerte Arm Pekings. Noch weiter im Hintergrund steht Moskau . . ."
Das eigene Lager schildert die „BZ" im gleichen Artikel so: „Die Amerikaner stehen allein. Ihre Verbündeten sind uninteressiert. Wenn sie nicht gar wie de Gaulle offen gegen die Amerikaner arbeiten. Die Amerikaner fühlen sich ihrem Wort verpflichtet. Sie wollen die Freiheit Südvietnams verteidigen, solange auch die dort lebenden Menschen dazu entschlossen sind. Die Amerikaner wissen: fällt Südvietnam, dann ist das Schicksal ganz Südostasiens besiegelt. Dieser Situation sollten sich alle Menschen im Westen wieder bewusst werden. Das gilt besonders auch für uns. "(„BZ" 12.4.1965)
In der lichten Sprache des Marketing hat Springer einmal gesagt, es dürfe nie mehr vorkommen, dass nur für eine bestimmte Klasse geschrieben wird, statt für die Allgemeinheit. Er hat diesen Faux-pas „Klassenpresse" dadurch zu beseitigen versucht, dass er der Allgemeinheit nun einredet, die Interessen der Herrschenden seien die ihren. Was aber geschieht mit dem wirklichen Widerspruch zwischen den Klassen? Wohin richten sich die Aggressionen der Unterdrückten, die den Hass auf die Unterdrücker auf Ersatzfeinde ablenken? Der Klassenkampf, dessen Austragung in der Gesellschaft die Springerpresse zu unterdrücken hilft, ist nicht beseitigt. Er findet nur auf einem anderen Schauplatz statt. Der Klassenkampf wird in die Psyche des Lesers getragen und dort als Kampf des einzelnen mit seinen verdrängten Befreiungswünschen weitergeführt. Es ist ja nicht so, dass Springers Massenpresse die Wünsche der Massen überhaupt nicht zu Wort kommen ließe, dazu sind diese Wünsche viel zu heftig. Alle Bedürfnisse, die Triebkräfte des Klassen kämpf es werden könnten, finden in „Bild" ihren Ausdruck: Das Ressentiment der Massen gegen die Staatsbürokratie, die Wut auf die parasitäre Lebensweise der Reichen, die Ahnung, dass der gesellschaftliche Reichtum vergeudet wird, die Verzweiflung über die Isolierung und Ohnmacht des einzelnen - alle diese Erfahrungen finden in der Massenpresse ihren Ausdruck. Aber während „Bild" die Massenbedürfnisse zum Ausdruck bringt, bekämpft sie gleichzeitig ihre Wahrnehmung durch die Massen. Genauer, sie bringt die Massenbedürfnisse zum Ausdruck, um die Massen an ihrer Befriedigung zu hindern. Und sie bringt sie genau dann zum Ausdruck, wenn sicher ist, dass sie sich nicht verwirklichen lassen. Streikende Arbeiter stellt sie als illegale Minorität dar. Nach dem Zusammenbruch des Streiks tritt sie für Lohnverhandlungen ein. Sie hetzt die Polizei gegen demonstrierende Studenten auf. Wenn sie zusammengeschlagen sind und die Justizmaschine läuft, redet sie von der fälligen Universitätsreform. Man kann auch durchaus einen objektiven Bericht über die Notstandsgesetze in der „Bild-Zeitung" lesen, aber eben erst dann, wenn sie „objektiv" geworden, nämlich verabschiedet sind. Das nennt Springer dann die „differenzierte" Berichterstattung seiner Zeitungen. Während sie jede Form der Massenaktivität verfolgen, fördern sie die Hoffnung des einzelnen auf einen Aufstieg in der sozialen Stufenleiter, in der jeder durch Fleiß und Arbeit alles werden könne. Das notwendige Scheitern dieses Aufstiegs wird von den Individuen dann als persönliches Versagen erlebt. Durch die ständige Mobilisierung für Rentner- und Tierschicksale liefert sie den Massen das Surrogat1 ihrer Macht und Selbsttätigkeit.
Durch „Glücks-Kampagnen" wie „Aktion bester Nachbar" und „Aktion roter Stiefel" suggeriert sie ihnen das Bestehen einer Solidarität, das in Wirklichkeit erst durch den Kampf hergestellt werden kann. Das Gefühl der Isolierung jedes einzelnen, das dennoch nicht zu unterdrücken ist, bringt sie zum Ausdruck und benützt es zur Fixierung an die staatliche Autorität. Dieses gebrochene Bewußtsein, daß alles sehr schlimm sei, aber nichts mehr zu ändern, läßt sich an dem Kommentar der „BZ" zum Jahresende vorführen: „War es nun wirklich so schlimm, dieses verflixte Jahr 1967? Ich finde, der Abstand zu den Kümmernissen ist schon da. Das weniger Schöne verklärt sich bereits und man kann erleichtert feststellen: es hätte schlimmer kommen können." („BZ", 30.12.1967) (Aus: Peter Schneider, Ansprachen, Berlin: Wagenbach 1970, S. 23-27.)