Walter Helbling, von der Istanbul Post
Die Antwort auf Arkan und der Athener Zeitung!
Genauer betrachtet....
...vergeht eigentlich kein Monat ohne das Thema Türkei auf den vordersten Seiten im europäischen Blätterwald. Hauptthemen sind: EU, Hungerstreiks, Menschenrechte, Kurden, Bombenattentate, illegale Flüchtlinge, die Rolle der Türkei im Afghanistankonflikt und als Verbündeter der USA. Zusätzlich berichten die Medien immer wieder mehr oder weniger ausführlich über Kundgebungen, Demonstrationen, und Veranstaltungen von Menschenrechtlern in Europa. Als Letztes erfährt der geneigte Leser noch, was der Herr Verheugen der Türkei dringend rät, was der Alt-Bundeskanzler Schmidt von einem möglichen EU-Beitritt hält und neuerdings, mit welchen Mitteln der IWF die Türkei wirtschaftlich fit trimmen möchte.
Seit nunmehr 15 Jahren kenne ich die Türkei. Es hat mich erstaunt und verunsichert, dass das Bild von der Türkei, welches bei uns in Europa durch Medienschaffende gezeichnet wurde und die Realitäten, welche meine Frau und ich in unseren Urlauben als Individualreisende erlebten, einfach nicht zusammenpassen wollten. Richtig bewusst wurde mir dies, als wir uns ab 1996 mit Auswanderungsplänen zu befassen begannen. In meinem bisherigen Leben habe ich weiss Gott schon viel Unkonventionelles gemacht, noch nie jedoch musste ich mich nach allen Seiten derart für etwas rechtfertigen, wie für die Idee, in die Türkei auszuwandern. „Das kannst du deiner Frau nicht antun. Die Türkei ist doch ein von Krisen geschütteltes Land, überall Bombenattentate, eine menschenverachtende Diktatur, unstabile politische Verhältnisse", und so weiter.
In dieser Phase vor unserer Auswanderung ist mir wirklich bewusst geworden, wie negativ geprägt das Wort Türkei im Bewusstsein unserer Bevölkerung auch heute noch ist. Seit Jahren gibt es scheinbar nichts Positives aus diesem Lande zu berichten, oder die verantwortlichen Journalisten betrachten das Positive als nicht erwähnenswert. Ich nenne dieses Phänomen „Macht der Medien" oder „Instrumentalisierung der Medien".
„Macht der Medien": Nach dem schweren Erdbeben in der Türkei benötigt der Türkei-Korrespondent einer namhaften schweizerischen Tages-Zeitung volle drei Tage, um das Ausmass dieser Katastrophe zu beschreiben. Wohl schreibt er täglich seine Beiträge. Darin lamentiert er über die zusammengebrochene Infrastruktur, was beweise, wie schlecht der türkische Staat für Katastrophen gewappnet sei; über die schleppend anlaufenden Hilfsmassnahmen, was beweise, wie überfordert Militär und Politik seien... Es dauert volle 10 Tage, bis in der Schweiz das Ausmass dieser Katastrophe erkannt wird und ein nationaler Sammeltag angekündigt wird. Es dauert mehr als 48 Stunden, bis die Schweiz Rettungshundestaffeln in die Türkei fliegt. Ein tragisches Beispiel eines Journalisten, welcher seiner Aufgabe nicht nachkommt. Leidtragende waren in diesem Falle Menschen in Lebensgefahr.
„Instrumentalisierung der Medien": In Europa gibt es eine Vielzahl von türkischen (und kurdischen) Organisationen, welche sehr vernetzt arbeiten. Ihnen gemeinsam ist, dass sie „für mehr Demokratie" und für „Menschenrechte" sind. Jahrelang war es diesen Gruppierungen möglich, via Presseeinladungen auf kommende Demonstrationen hinzuweisen, Stellungnahmen abzugeben und diese tags darauf auch in den Zeitungen vorzufinden. Wenn man nun im Internet nach den Homepages einzelner Gruppen sucht, findet man Interessantes: Aufruf zum bewaffneten Widerstand in der Türkei, Meldungen über erfolgte Bombenanschläge auf staatliche Einrichtungen, Adressverzeichnis der europäischen Zentralen und Landesvertretungen. Jahrelang fanden Parteien wie die DHKP willige Journalisten, welche wissend oder unwissend Aussagen von Exponenten unreflektiert als „Wahrheit" abdruckten.
Fazit für die Europäer angesichts dieser Nachrichtenlage: Wo's nichts Positives zu berichten gibt, kann auch nichts Positives sein. Urlaub in einer Club-Anlage mag ja noch angehen, man achtet ja schliesslich auch etwas auf den Preis und günstiger als in der Türkei gibt's den Urlaub nirgends. Dann aber wieder nichts wie nach Hause!!
Was ich jedoch am meisten bedaure: Was wissen wir in Europa eigentlich vom ganz normalen Leben in der Türkei? Was wissen wir von den Freuden und Sorgen der rund 60 Millionen türkischen Normalverbraucher? Was wissen wir über die wohl interessantesten Landschaften Europas, welche in der Türkei zu finden sind? Was kennen wir von der kulturellen Vielfalt dieses Landes? Wo lernen wir, dass sich ein Grossteil unserer christlichen Vorgeschichte in der heutigen Türkei abgespielt hat?? Wo lernen wir etwas über die Geschichte des osmanischen Reiches und die Geschichte der heutigen Türkei?? Wetten, dass wir über die Geschichte der Aborigines Australiens mehr wissen als über die Türkei??
Ausgestattet mit diesem Nicht-Wissen fühlen wir Europäer, vor allem Deutsche und Schweizer, uns nichts desto trotz berufen, der Türkei via hohe Politik und die Medien Ratschläge zu erteilen, was sie zu tun und zu lassen habe. Solche Vorstösse werden natürlich in der türkischen Presse ausführlich kommentiert und kritisiert, was letztlich dazu führt, dass ich mich als Europäer und der türkischen Sprache etwas mächtig, in der Türkei erklären muss. „Wie ist es möglich, dass bei euch diese (oder jene) Organisation nicht verboten ist?? Weshalb kriegen bei euch Terroristen Asyl?" Ich weiss nicht, wie oft ich diese Fragen schon zu beantworten versuchte. Das ist gar nicht so einfach, haben Sie's schon mal ausprobiert??
Sie, lieber Leser, liebe Leserin, leben in der Türkei oder stehen in einer besonderen Beziehung zu diesem Land. Sicherlich stimmen Ihre Eindrücke von der Türkei nicht mit meinen, eingangs zitierten, europäischen Cliches überein. Wie gehen Sie mit diesem Zwiespalt um? Ich werde manchmal wütend ob so viel unwissender Arroganz aus good old europe. ..und wehre mich dann in Form von Leserbriefen und an öffentlichen Diskussionen für die Türkei. Ein vielfältiges, faszinierendes Land, in welchem keineswegs alles in Ordnung ist, welches es aber verdienen würde, objektiver beschrieben und dargestellt zu werden. Schon der Bevölkerung zuliebe. Das wäre auch ein Menschenrecht, zumal Millionen von ihnen bei uns in Europa leben.
Gilgamesch