Wie wir die Armen aus unserem Gewissen verbannen
Im Folgenden möchte ich eine sehr alte, sehr menschliche Verhaltensweise erörtern: die gedankliche Übung, mit deren Hilfe wir über Jahrzehnte, genauer über Jahrhunderte, die Armen aus unserem Gewissen verbannt haben...
...Von der eingeschränkten Freiheit der Armen
Dies ist vielleicht der durchsichtigste aller vorgestellten Denkansätze, denn in der Regel wird die Beziehung zwischen Einkommen und Freiheit der Armen nicht thematisiert. Dabei sind sich gewiss alle einig, dass keine Form der Unterdrückung so massiv ist wie diejenige, die von völliger Mittellosigkeit herrührt. Zwar ist immer wieder viel die Rede davon, dass die Freiheit der Reichen durch die Steuern eingeschränkt werde, aber niemand spricht davon, wie fantastisch die Freiheit der Armen erweitert wird, wenn sie endlich etwas mehr Geld ausgeben können. Dabei ist der Verlust an Freiheit, den die Reichen durch Besteuerung erleiden, völlig unerheblich im Vergleich mit dem Gewinn an Freiheit, den die verarmten Massen erfahren, wenn sie über ein höheres Einkommen verfügen. Wir schätzen die Freiheit, und zwar zu Recht. Aber weil wir sie schätzen, sollten wir sie nicht als Vorwand missbrauchen, um bedürftigen Menschen ihre Freiheit vorzuenthalten.
Wenn alle anderen Denkstrategien versagen, bleibt uns als letzte Zuflucht immer noch die schlichte psychologische Verdrängung. Es handelt sich dabei um eine Neigung, die uns allen vertraut ist. Sie hält uns davon ab, über den Tod nachzudenken. Sie hält viele Menschen davon ab, über den Rüstungswettlauf nachzudenken und darüber, dass wir uns auf diese Weise früher oder später selbst vernichten. Derselbe Verdrängungsprozess erspart es uns, über die Armen nachzudenken. Ob sie in Äthiopien oder in der New Yorker Bronx oder am Rande eines Paradieses wie Los Angeles leben, wir sind entschlossen, sie aus unseren Köpfen zu verbannen. Denkt doch, so lautet der übliche Rat, an etwa Angenehmes.
Dies sind die modernen Denkmuster, mit denen wir uns die Sorge um die Armen vom Leibe halten. All diese Muster, das letzte vielleicht ausgenommen, knüpfen vornehmlich an die Vorstellungen von Bentham, Malthus und Spencer an, die sie mit einiger Fantasie weiterentwickeln. Ronald Reagan und die Seinen stehen dabei eindeutig in einer denkwürdigen Tradition - mithin am Endpunkt einer langen Geschichte des Bemühens, sich der Verantwortung für die Mitmenschen zu entziehen. Das gilt auch für die Philosophen, die heute in Washington gefeiert werden: wie George Gilder, der unter großem Beifall erklärt, dass die Armen das eigene Leid schmerzhaft spüren müssen, damit sie sich ins Zeug legen. Oder wie Charles Murray, der unter noch größerem Beifall vorschlägt, "alle bundesstaatlichen Sozialprogramme und Einkommensbeihilfen für die arbeitende Bevölkerung und die Alten abzuschaffen". Damit meint er die allgemeine Kranken- wie auch die Arbeitslosenversicherung, Abfindungen bei Entlassungen wie Subventionen für den Wohnungsbau, die Berufsunfähigkeitsversicherung und "den ganzen Rest". Seine Parole lautet wörtlich: "Lasst uns den Knoten durchschlagen, da wir ihn nicht lösen können." Wer es sich verdient hat, soll zu den Auserwählten zählen, die überleben, und wenn alle andern untergehen, dann ist das eben der Preis, den wir zahlen müssen. So weit Murray - die Stimme Spencers in unserer Zeit.
Mitgefühl, verbunden mit einer entsprechenden staatlichen Sozialpolitik, gilt heute als ein anstößiges und unstatthaftes Konzept. Und doch ist es nach wie vor das einzige, das mit einem umfassend zivilisierten Leben vereinbar ist. Und es ist auch, letzten Endes, der im eigentlichen Sinn der "konservative" Ansatz. Und das ist durchaus keine paradoxe Aussage. Wo die Menschen zufrieden sind, wird es kein ziviles Aufbegehren geben.