Die Kehrseite russischer Atomträume: Tscherjabinsk

Giacomo_S

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Auf der Photokina habe ich mir eine Ausstellung von Greenpeace angesehen über Tscherjabinsk (und andere Atom-Städte Russlands).

Achtung, verstörende Fotos von Menschen:
Verdrängt, Verstrahlt, Vergessen
Mit dem Cursor über die Bilder rollen, um den Infotext (engl.) zu lesen.

Diese Photoausstellung und die beigefügten Informationen sind sehr erschütternd. Die persönlichen Schicksale dieser armen Menschen, die trotz ihres harten Schicksals versuchen, ihrem Leben noch ein Quentchen Glück abzutrotzen haben mich sehr traurig, aber auch sehr wütend gemacht.

Der Ausstellung (und anderen Informationen) habe ich zum Thema Tscherjabinsk folgendes entnehmen können.
- Die gesamte Region ist eine "Atom-Region" in der das Material für die gesamte Atomwirtschaft der UdSSR produziert wurde. 500 Atombomberversuche, davon über 100 oberirdische fanden in der räumlichen Nähe statt.
- 1957 explodierte durch Schlamperei bei der Kühlung ein Altlastenbehälter mit hochradioaktiven Material. Dabei wurde etwa die 5-fache Strahlung des Tschernobyl-Unfalls freigesetzt (geschätzt). Über 1.000 Menschen starben kurzfristig an den Folgen. Der Vorfall wurde über 30 Jahre vertuscht und erst Ende der 80er Jahre der internationalen Atomenergiebehörde gemeldet. Der Unfall fiel international nicht auf, weil aufgrund der geographischen Lage u. des Ural-Gebirges keine erhöhte Strahlung in andere Nationen getragen wurde.
- Die Region gilt als die höchstbelastete Region weltweit. Innerhalb der Region gibt es immer noch Sperrgebiete, die nicht betreten werden können.
- Der Anteil an Totgeburten und deformiert geborenen Kindern muß enorm sein. Auf jedes geborene Kind kommt eine Abtreibung, aus medizinischen oder auch sozialen Gründen.
- Aber auch die "gesunden" Kinder sind gezeichnet. Oft sind sie krank, es gibt abnorme Häufungen von schweren Krankheiten, die sonst bei Kindern nicht oder nur sehr selten vorkommen (Herz, Gehirntumor, Lungenkrebs, Wasserkopf). Der Anteil geistig oder körperlich behindert geborener Kinder ist hoch. Die Kindersterblichkeit ist deutlich erhöht.
- 75-80% der Frauen haben Probleme mit der Schilddrüse. Viele müssen an der Schilddrüse operiert werden.
- Die Menschen werden mit ihrem schweren Schicksal allein gelassen oder ignoriert. Wer kann, zieht weg, ab er für die meisten ist das aus finanziellen Gründen nicht drin.
 

Eskapismus

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Giacomo_S schrieb:
- 1957 explodierte durch Schlamperei bei der Kühlung ein Altlastenbehälter mit hochradioaktiven Material. Dabei wurde etwa die 5-fache Strahlung des Tschernobyl-Unfalls freigesetzt (geschätzt). Über 1.000 Menschen starben kurzfristig an den Folgen. Der Vorfall wurde über 30 Jahre vertuscht und erst Ende der 80er Jahre der internationalen Atomenergiebehörde gemeldet. Der Unfall fiel international nicht auf, weil aufgrund der geographischen Lage u. des Ural-Gebirges keine erhöhte Strahlung in andere Nationen getragen wurde.

Das Werk lag an einem Fluss welcher natürlich total verstrahlt wurde. Man hat die meisten Menschen, die an diesem Fluss gewohnt haben evakuiert mit der Ausnahme eines einzigen Dorfes. Man liess sie dort um die Langzeitfolgen der Verstrahlung zu untersuchen. Ein bis zwei mal im Jahr nahm der Schularzt Rückenmarkproben von den Kindern.

Nach dem Zusammenbruch der CCCP starteten die Amis mehrere Projekte mit hunderten Millionen Dollar um den radioaktiven Müll und brach liegendes Material einzusammeln. Vielleicht mögt ihr euch an Adamov erinnern, der sass vor kurzem noch in Schweizer Haft und wartete auf seine Auslieferung in die USA, die ihn wollten, weil er sich 9 Millionen von diesen Geldern, welche diesen Leuten direkt zu Gute gekommen wäre unter den Nagel gerissen hat. Die Russen wollten das aber nicht, also stellten auch sie kurzfristig einen Haftbefehl aus und verlangten seine Auslieferung. Die Schweizer haben ihn dann auch tatsächlich den Russen ausgeliefert. Dann wurde er mal für längere Zeit aufgrund von Fehlern in der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft auf freien Fuss gesetzt. Jetzt hat der Prozess angefangen. Bin ja mal gespannt was dabei rauskommt.

Der Typ war vorher Atomminister und hat sich später an den Aufräumprojekten bereichert. Somit ist er gleich doppelt Verantwortlich für die geposteten Bilder. Diese Bilder machten auch in Russland die Runde auf den Foren. Die Russen sind aber Meister im Verdrängen, Verlügen und Vergessen. Das muss man können sonst hält man es hier nicht aus. Und je mehr Geschichten die Leute mitkriegen, desto abgestumpfter werden sie.

Drei Geschichten aus Moskau:

Eine junge Mutter wurde mit ihrem Kinderwagen auf einem Fussgängerstreifen überfahren – wie meistens hat der Fahrer das weite gesucht. Das Kind war sofort Tod. Einige Leute haben sich um das tote Kind im Strassengraben geschart. Die Mutter wandelte im Schock auf der Strasse umher und sammelte ihre Einkäufe auf. Um sie hat sich niemand gekümmert. Sie wurde von einem Minibus erfasst und starb kurz darauf. Der Minibusfahrer versuchte nicht einmal Fahrerflucht zu begehen. Er fuhr 50 Meter weiter und hielt dort an, um einige Kunden einsteigen zu lassen weil jeder von denen 15 Rubel wert ist.

Neulich hat eine englische Journalistin eine Geschichte geschildert, die sich bei ihr vor dem Haus in Moskau ereignet hat. Weil irgend ein Sovetidiot entschied, dass man die Heizungen der Häuser besser in die Dächer der Plattenbauten machen soll, schmilzt der Schnee durch die Wärme auf dem Dach und sammelt sich dann am Dachrand in Eisklumpen und Eiszapfen an. Dieses Eis und der Schnee muss dann von Sklaven aus Zentralasien entfernt werden. Die stapfen dann ohne Sicherung auf dem vereisten Dach rum und versuchen die Eiszapfen zu lösen. Als nun diese Journalistin am Morgen das Haus verliess lag vor ihrem Haus so ein Tatschik, der noch lebte und auch noch bei Bewusstsein war. Sie rief die Ambulanz und nach 20 Minuten kamen ein par Milizionäris, schauten sich den sterbenden an und rauchten eine Zigarette und gingen wieder. Danach kam der Krankenwagen. Natürlich wird so einer nicht ins Spital gebracht, der kann das ja nicht bezahlen. Die bringen sie einfach irgendwo hin, wo sie in Ruhe verrecken.

Drogentoter im Klub. Die Polizei schliesst den Klub. Die Jungs und Mädels wollen sich die Stimmung nicht verderben lassen und drehen die Autoradios auf und tanzen auf der Strasse. Der Leichnam des Pillenfressers liegt 3 Meter weiter noch am Boden.

Jetzt muss man sich vor Augen halten, dass Moskau im russischen Vergleich noch gut da steht.

Und trotzdem gibt es in Russland viele Leute, die selber mausarm sind und sich aufopfern um anderen zu helfen.

Ich gehöre nicht dazu. Bin langsam auch gut im Verdrängen. Wird langsam Zeit für mich zu gehen.
 

Lazarus

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Seit 1951 wurden in den See Karatschai hochradioaktiver flüssiger Müll eingeleitet. Durch eine Dürreperiode trocknete der See 1967 teilweise aus. Bereiche des kontaminierten Seebodens wurden freigelegt und mit bis zu 600 Curie beladener Staub, welcher hauptsächlich die Spaltprodukte Strontium-90 und Cäsium-137 enthielt, wurde durch Wind auf eine Fläche von 1.800 bis 2.700 Quadratkilometern verteilt.
Als Gegenmaßnahme wurden weitere Teile des Sees zugeschüttet. Doch die Verklappung der Abfälle wurde nicht eingestellt. [....] So hat sich unter dem heute noch 13 Hektar großen Karatschai-See im Laufe der Jahrzehnte eine „Linse“ mit radioaktiven Salzen gebildet. Diese bewegt sich nun mit ca. 80 Metern jährlich in Richtung regionaler Grundwasserströme. Durch die Flüsse Ob und Tetscha könnten die Reste der strahlenden Abfälle dann bis ins Eismeer gelangen.

Majak – Leuchtfeuer des nuklearen Wahnsinns

Und? Sind wir besser?

Allein die Wiederaufbereitungsanlage THORP leitete vor ihrer Zwangsstillegung nach Angaben der Betreiber BNFL völlig legal 27,8 Millionen Curie pro Jahr größten Teils in die irische See. Zum Vergleich: Nach Angaben der IAEO wurden bei der Tschernobyl Katastrophe 50 Millionen Curie aus dem 30 Kilometer großen Katastrophengebiet herausgetragen.

Windscale / Sellafield – Strahlendes Beispiel Großbritannien
 

Giacomo_S

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Eskapismus schrieb:
Drei Geschichten aus Moskau:
Sind das belegte Geschichten oder Urban Legends ?
Ich habe die Amis schon für ignorant gehalten. Aber das schlägt alles. Wie kann man nur so unmenschlich und menschenverachtend sein ?
Und ich hatte gedacht: Die Russen sind wenigstens alle krankenversichert.
 

Eskapismus

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Giacomo_S schrieb:
Eskapismus schrieb:
Drei Geschichten aus Moskau:
Sind das belegte Geschichten oder Urban Legends ?

Standen in der Zeitung und kamen im TV (Der Drogentote und der Tatschik waren aber nicht gut genug für den TV, von denen las ich in Zeitungsartikeln englischsprachigen Zeitungen, die hier erscheinen. Solche Geschichten gibt es tausende. Es gibt im Russischen TV am Abend so eine Art Explosiv-Taff-Pseudonachrichtenmagazin. Die bringen immer die blutigsten Unfälle und Verbrechen des Tages (man muss dabei bedenken, dass fast ausnahmslos alle Russen in der Küche Abendessen und da läuft immer ein Fernseher). Zensiert wird dabei gar nichts. Ich könnte dir Links schicken z. B. die verkohlten Leichen von zwei Kommilitonen nach dem letzten grösseren Brand in meinem Studentenheim.

Ich habe die Amis schon für ignorant gehalten. Aber das schlägt alles. Wie kann man nur so unmenschlich und menschenverachtend sein ?

Das lässt sich nicht beschreiben. Geh mal in ein solches Land leben, dann geht das von selbst. Einmal lag ein toter auf einem stark bevölkerten Bürgersteig vor uns (wurde wohl aus einem Spielcasino geworfen und ist wohl unglücklich gefallen). Wir haben uns schon überlegt ob wir die Milizia holen sollten aber die meisten hatten zu viel angst, dass wir dann von der Milizia entweder verhauen oder für den Tod verantwortlich gemacht werden.

Und ich hatte gedacht: Die Russen sind wenigstens alle krankenversichert.
Also ich musste eine Versicherung von meiner Uni Abschliessen, die Bezahlen mir bis zu 100 Euro wenn mir was passiert. Für viel mehr als einen Leichensack reicht das wohl nicht. Ausserdem habe ich von einem Tatschiken geschrieben. Tatschiken und andere Zentralasiaten leben meist auf den Baustellen wo sie arbeiten oder zusammengepfercht in dem kleinen Räumchen unten im Erdgeschoss der Plattenbauten wo der Müll rauskommt, den die Leute oben in den Müllschlucker geworfen haben. Da gibts keine Versicherung für gar niemanden.
 

Eskapismus

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Man mag fast glauben: Da ging es den Leuten unter dem Kommunismus besser.

Sowie es verschiedene Leute und Bevölkerungsgruppen gibt, gab es auch verschiedene Epochen, die es zu beurteilen gibt. Es gab den Bürgerkrieg, den Staatsterror der Dreissiger, den zweiten Weltkrieg und die Perestroika. Dies waren Epochen während denen es den Leuten IMO viel schlechter ging als Heute. Es gab aber auch Zeiten wo der Kommunismus noch sehr gut funktioniert hat wie beispielsweise nach dem 2 WK.

Heute geht es aber bergauf auch für die ärmeren Teile der Bevölkerung. Wenn es nicht noch zu erneuten Crashs kommt, wird sich das Land schon bald den "Luxus" leisten können sich um die ärmsten der Armen kümmern zu können. Solche wie in der von dir geposteten Seite.

Wäre schön.
 

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