ammun schrieb:
"ach was, auf die ärmsten können wir verzichten, und auf nachwuchs von normalen ebenso, da wir eh via greenkard bessere und billigere arbeitnehmer bekommen! wir brauchen euch nicht mehr!"
Wenn man eine Gesellschaft als "ein Ganzes" wahrnimmt, ist das der Ansatz teilweise gar nichtmal so verkehrt. Wir einzelnen Menschen sehen unseren Körper zum Beispiel auch als "ein Ganzes" - wer weiss, wie sich die ganze Fettmasse fühlt, wenn sich einer plötzlich gesünder und maßvoller ernährt und beginnt Sport zu treiben?!
Das ist natürlich ein ziemlich böser Vergleich und im Gegensatz zu Fettmolekülen sind in einer Gesellschaft grundsätzlich denkende und fühlende Menschen. Und diejenigen, die da sind, sind da.
Ich glaube nicht, daß die Hartz4-Leute "verhungern", allerdings haben sie es schwer - das ist korrekt. Prinzipiell finde ich den Gedanken, die Verhungernden, Armen und vor allem Ungebildeten "auszurotten" völlig richtig. Nur will ich sie nicht krepieren lassen, sondern sie zu gesättigten, auskommenden, gebildeten Leuten "ändern". Und die Politiker wollen das eigentlich auch, wenn man mal in Ruhe und Gelassenheit mit ihnen redet (und nicht in einem 1,3-Minuten-Interview in der Tagesschau).
Bis vor einigen Jahrzehnten sind die meisten Politiker und Sozialwissenschaftler auch davon ausgegangen, daß nahezu jedes Individuum versuchen wird, sich selber und insbesondere seine Kinder gesellschaftlich wie finanziell zu "verbessern". Offenbar scheint dies jedoch keine Selbstverständlichkeit zu sein.
Von daher finde ich, daß Dein Posting leider nur ein Symptom eines Symtoms beschreibt. Es gibt viele Leute, die sich selber und ihre Kinder "ausgeschlossen" oder "an den Rand gedrückt" fühlen und nicht besonders viel für sich, die eigene Bildung, Gesundheit, etc tun. Die Politiker überlegen sich, wie man denen ein wenig Beine machen kann, und machen die ganzen Sozialgelder unangenehmer in vielfacher Hinsicht.
Aus meiner Sicht ist dieser Weg nur ein sehr kleiner Teil. Den Leuten zu versuchen "Beine zu machen", genügt einfach nicht. Da steckt teilweise eine ziemliche Trägheit in den Köpfen von Menschen, die über viele Jahre (Jahrzehnte) insbesondere vom(mit Fernseh-Medium antrainert wurde. Auch der Zerfall der Familien trägt dazu bei, da in früheren Zeiten einfach mehr Druck innerhalb einer Familie ausgeübt werden konnte... heute lässt man sich kaum noch was in der Familie sagen, bzw... es gibt immer weniger Familien, wo dieser Druck funktioniert.
Es mag noch diverse andere Gründe geben... aber Fakt ist offenbar, daß wir einen erheblichen Teil des "Prekäriats" nur sehr schwer aktivieren können. Problematisch ist sicher auch, daß insbesondere im Fernsehen in den langweiligsten Daily-Soaps heutzutage eine solch dekadente Glitzerwelt als Normalität verkauft wird, die sich ein kleiner Angestellter mit Frau und zwei Kindern unmöglich leisten kann. Woher soll so jemand eine Motivation nehmen, wenn er eh schon am Boden liegt, sich aufzurappeln, wenn die Ziele, die ihm durch die Medien verkauft werden, trotzdem nicht erreichbar erscheinen?!
Ich persönlich glaube, daß in der Konsum-Welt mit sozialen Leistungen, wie sie in den letzten ca. 100 Jahren entstanden ist, dieses Problem automatisch entstehten musste. Aus meiner Sicht gibt es auch noch nicht ansatzweise Ideen, wie man diese Schicht langfristig, evtl sogar über Generationen, beseitigen kann, indem man einfach alle Menschen dahin erzieht, zu sehen, daß dieser Status nicht zur individuellen Zufriedenheit führt, und man selber (mit Hilfe von Aussen) durchaus was dran ändern kann. Wenn ich mir anschaue, wie die Industrieländer damit umgehen, sehe ich insbesondere materielle Kriterien - maximal Versuche, sie irgendwie in Jobs zu "drücken".
Aber eine grundsätzliche gesellschaftlich Diskussion oder gar Idee, wie man mit diesem dekadenten, konsumorientierten "Gammel"verhalten umgehen kann, sehe ich kaum. Und dieses Verhalten betrifft nicht nur "Arme" - als ideales Anschauungsbild kann ich nur den Film "About a Boy" empfehlen... da zeigt Hugh Grant perfekt den reichen, dekadenten, aber letztlich nicht zufriedenen Gammeltypen. Stylisch sieht er zwar perfekt aus, aber sozial ist er ein absoluter Krüppel.
Oder um es nochmal anders zu formulieren: In früheren Zeiten wurde man durch diverse Umstände zu einem gewissen sozialen Verhalten gezwungen. Dies beinhaltete leider auch Dinge, die aus heutiger Sicht unfrei oder gar wider die Menschlichkeit sind (von Eltern geplante Hochzeiten, regelmäßige Schläge für Kinder, etc). Heutzutage hilft uns der TV und andere Dinge, das soziale Verhalten maximal passiv (über Konsum von Fernsehserien) zu erleben. Und wenn Du keine Ziele und Motivation mehr in Deinem Leben hast... das Leben eigentlich nur noch "ausschalten" willst, indem Du den Fernseher (oder was anderes) einschaltest... dann wirst Du auch im Supermarkt beim einkaufen ziemlich träge sein - ne Tüte Chips ist irgendwie "einfacher" als ne Orange. Nix zu schälen, kein schlabbriger Müll, keine Hände waschen... Tüte aufreissen, reinstopfen, fertig. Kenn ich nur zu gut... habe ich jahrelang selber gemacht.
Wir Menschen unterschätzen eigentlich unsere Fähigkeit zur Trägheit. Diese Trägheit überwindet man eigentlich nur, wenn man einen gewissen Druck (von Aussen) spürt oder Selbstdisziplin hat (die anerzogen werden muss) oder über eine ausreichende "Unruhe" verfügt (die aber auch negativ ausgelebt werden kann - siehe Hooligans) oder... tja... oder eine Motivation bzw bestimmte Lebens-Ziele besitzt. Der Druck von Aussen hat in den vergangenen 50-100 Jahren stark abgenommen, die Selbstdisziplin wird immer weniger anerzogen, die Unruhe wird mit Ritalin wegmedikamentiert und... Lebens-Ziele bestehen in der nächsten Soap-Folge, dem nächsten WorldOfWarcraft-Item und der nächsten Chips-Tüte.
Willkommen in der modernen Medienwelt.
Ich habe ja die Hoffnung, daß die Menschen in den nächsten 50-100 Jahren lernen, sinnvoller mit den Medien umzugehen, als sich dort einfach nur "abschalten" zu lassen. Aber wer weiss... ganz nüchtern betrachtet, kann das in einer Welt von 7-9 Mrd Individuen auch evtl der einzige Weg zur halbwegs friedfertigen Welt sein. 7-9 Mrd Arbeiter und Dienstleister werden vermutlich nicht benötigt. Wohin mit denen, die über sind?! Vielleicht wäre eine virtuelle Zusatzwelt, wo man über andere Wege eine Anerkennung finden kann, gar nicht so verkehrt?! Denn aus meiner Erfahrung in einem solchen Online-Rollenspiel kann ich durchaus sagen, daß diese Systeme dazu geeignet sind, das ein Spieler das reale Leben komplett "ausschalten" kann, und Anerkennung kann man dort auch finden. Vielleicht wird in 50 oder 100 Jahren die Matrix gar nicht von Maschinen gebaut, sondern von Menschen... um die Menschen nicht in Kriegen verheizen zu müssen, die "über" sind.
Eigentlich kein wirklich schöner Gedanke... aber was für andere Vorschläge gibt es, in einer Welt mit offenbar begrenzten Arbeitsplätzen, diejenigen zu beschäftigen, die in der Arbeitswelt nicht mitspielen können/dürfen?!
gruß
Booth