Demokratie anders

streicher

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In diesem Thread soll Platz für Austausch über neue oder auch alte demokratische Ideen, Demokratieformen und demokratische Verfahrensweisen sein.

#1
Wahldemokratie gibt den Eliten die Möglichkeit, die politischen Zügel in die Hand zu geben. Parteien suchen viele Mitglieder zu rekrutieren, unter ihnen die Eliten heranzubilden, um sie für die Gewinnung von politischen Ämtern aufzustellen. Eliten regieren, doch das Volk fühlt sich oft nicht überzeugend politisch repräsentiert, aus verschiedensten Gründen. Im alten Griechenland wurde dereinst zur Bestimmung eines "Rates der 500" gelost, und diese Methode als demokratisch gehalten, weniger die Wahl. Aristoteles selbst meinte: "So gilt es, will ich sagen, für demokratisch, dass die Besetzung der Ämter durch das Los geschieht, und für oligarchisch, dass sie durch Wahl erfolgt. Interessant, nicht wahr? Die Wahl hielt er für oligarchisch.

Mehr Zufriedenheit dürfte durch mehr Partizipation und mehr Möglichkeiten für die Erfahrung von Selbstwirksamkeit entstehen. In Irland und in Österreich (Vorarlberg) wurden vereinzelt "Bürgerräte" (englischer Begriff interessanterweise "wisdom councils") eingesetzt, deren Mitglieder zufällig oder über Los ermittelt wurden. Ist es ein Modell, dass in Zukunft durchaus häufiger installiert werden sollte?
In der Vorarlberger Landesverfassung ist die partizipative Demokratie verankert. Der erste Bürgerrat wurde dort 2006 aus der Taufe gehoben, seitdem sind es weit über 30 geworden. Auch Unternehmen greifen die Idee auf. Könnten das Anfänge einer sich neu zeichnenden demokratischen Kultur darstellen?
BürgerInnenrat
 

Giacomo_S

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streicher schrieb:
Wahldemokratie gibt den Eliten die Möglichkeit, die politischen Zügel in die Hand zu geben. Parteien suchen viele Mitglieder zu rekrutieren, unter ihnen die Eliten heranzubilden, um sie für die Gewinnung von politischen Ämtern aufzustellen. Eliten regieren, doch das Volk fühlt sich oft nicht überzeugend politisch repräsentiert, aus verschiedensten Gründen.

Gerade Letzteres finde ich ziemlich affig.
Denn wir brauchen Eliten, gerade in der Politik. Wenn ich ein Haus bauen will, dann beschäftige ich ja auch Experten, Architekt und Bauingenieur, damit das Haus stehen bleibt. Und nicht Gebäudereiniger Schulze. Oder Blogger Meier.

Kneipenstrategen, die das Gemaule über "die Politiker" im ständigen Gesprächsfluss führen, sind ja nichts Neues. Persönlich kann ich jedem dieser Leute nur raten:
In einer Demokratie steht es Dir frei, Mitglied einer politischen Partei zu werden - sogar Politiker zu werden. Mach das - und schon bald wirst Du Dir eine andere Meinung gebildet haben. Eine nämlich, die zu der Auffassung gerät, dass einiges dazu gehört, Mitglied einer Elite zu werden und das es keineswegs unmöglich ist, als kleines Parteimitglied "die politische Elite" auch zu beeinflussen.

Neu ist eher:
Der Einfluss, den wir selbst ernannten Wichtigtuern und Selbstdarstellern heutzutage zugestehen. Die Möglichkeiten, als "einflussreicher Blogger", "YouTuber mit Millionen Followern" zu allem seinen überschätzten Senf dazu zu geben, ohne dass nur irgendwer zu hinterfragen scheint, wie viel Substanz deren Ergüsse eigentlich haben (meist gar keine).
Die Möglichkeiten früher meist isolierter Spinner, sich via Internet zusammenzurotten - und andere Spinner zu gewinnen. Leute, die früher bestenfalls ein kopiertes Traktat im Postversand herausgeben konnten (und meistens nicht einmal das).

streicher schrieb:
Im alten Griechenland wurde dereinst zur Bestimmung eines "Rates der 500" gelost, und diese Methode als demokratisch gehalten, weniger die Wahl.

Politiker im Losverfahren? Das muss ich nicht haben. Für das alte Griechenland mag das funktioniert haben. Die Entscheidungen, die damals gefällt werden mussten, waren weitaus weniger weitreichend, simpler und die Demokratie war erst im Anfangsstadium: Es musste erst ausgelotet werden, was auf Grundlage einer demokratischen Wahl entschieden - und was gar nicht verhandelbar ist.
Sklaven, Unfreie, Nicht-Griechen und Frauen war gar nicht erst Teil des demokratischen Entscheidungsprozesses: Also waren bereits die "Demokraten" des Stadtstaates Athen eine Elite. Da kann man leicht auslosen. Man ist sowieso schon unter sich.
 

hives

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@Losverfahen: Ich halte das für eine interessante Idee, aber völlig unrealistisch. Keine relevante Einflussgruppe will imho Machtverteilung per Los, warum sollte Sie auch?

1) Es wird unberechnbar, an wen man sich wenden soll, wenn man Politik langfristig oder auch nur kurzfristig vor dem Abschluss von Wahlen beeinflussen oder korrumpieren will, somit fällt Befürwortung eines Losverfahrens durch so gut wie alle relevanten und wortstarken Interessengruppen weg.

2) Politiker selbst wollen das natürlich auch nicht, es würde ja quasi den eigenen Berufszweig zerstören.

3) Es widerspricht zudem zentralen funktionalistischen Vorstellungen der leistungsgerechten Zuteilung von Positionen. Diese kann zwar in der Politik ohnehin angezweifelt werden, da Leistung schwer objektiv gemessen werden kann und auch die Wähler wenig Möglichkeiten haben, einzelne Politiker abzustrafen (wenn diese bspw. hohe Listenplätze haben) oder auch spezifische politische Entscheidungen zu beeinflussen (da das Ganze eben zu mehr oder weniger sinnvoll zusammengewürfelten Parteipaketen gebündelt wird, die idR nur ansatzweise mit eigenen Vorstellungen und eben inzwischen leider auch immer weniger mit den traditionell mit bestimmten Parteien verbundenen soziostrukturellen Gruppen zusammenpassen), aber dennoch handelt es sich dabei eben um sehr wichtige Vorstellungen, sowohl im Sinne von Gerechtigkeit als auch im Sinne von vermeintlicher Effizienz.

Also: nette Idee, derzeit völlig unrealistisch.
Ich würde zudem konzedieren, dass unser System starke oligarchische Aspekte hat, inklusive differentiellem Einfluss von unterschiedlichen Einkommensgruppen auf politische Entscheidungen. Nicht ohne Grund wird von Politologen neben Populismus teilweise Plutokratie als eine der zentralen Gefahren der modernen Demokratien bezeichnet....
 

streicher

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Auf gesamtstaatlicher Ebene wäre der Normalbürger, denke ich auch, völlig überfordert. Wer will sich denn mal schnell einen Überblick über den Staatshaushalt verschaffen. Wer versteht zum Beispiel die Investitionspolitik des Staates im Konjunkturzyklus?
Und auf Länderebene ist Politik kaum weniger komplex. Zustimmung - da geht nicht mal schell Politik von 0 auf 100, per Los reingerutscht.
Realistisch scheint die Partizipation auf Gemeindeebene zu sein. Argument dafür wäre zudem die unmittelbare Betroffenheit vieler Gemeindemitglieder, denn dort wohnt man. Auf der Ebene könnte eine Person sich noch am Ehesten hineindenken, auch wenn die Person es sich zuerst auch nicht zutraut. Vielleicht hat sie sich auch schon längst hineingedacht.
Das Experiment der Partizipation per Los auf unterer Ebene läuft im Vorarlberg in Österreich nun seit bald 11 Jahren, und scheint relativ gut angenommen zu werden. Allerdings läuft die partizipative Demokratie dort keinesfalls der Wahldemokratie den Rang ab, sie ergänzt sie bestenfalls sinnvoll. Die Politiker (in dem Fall jedoch in der niedrigen Ebene) brauchen sich deswegen keine Sorgen machen, dass sie ihre Ämter verlieren.

@ U-Tubern und Co.
Das ist neu, denn mit einem Video kann ein Jemand ein Millionenpublikum erreichen, das möglicherweise wenig hinterfrägt. Den klassischen Massenmedien wurde das Prädikat "Vierte Gewalt" (neben den klassischen Gewalten) zuerkannt. Jetzt existieren noch ganz andere massenwirksame Medien, die Einfluss nehmen und eine neue Herausforderung der Kontrolle und Gegenkontrolle ins Spiel wirft. Und nun?
 

hives

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Wer versteht zum Beispiel die Investitionspolitik des Staates im Konjunkturzyklus?
Das ist imho ein Argument, das auf dem Glauben an kompetente Funktionsträger basiert und auch mit den erwähnten Ideen der Leistungsgerechtigkeit zusammenhängt. Man könnte jedoch vermuten, dass viele Politiker die erwähnte Thematik auch nicht so wirklich verstehen - vielleicht kennen sie eine prominente Vorstellung davon, eine Richtlinie dazu, aber nicht Feinheiten der wissenschaftlichen Diskussion hinsichtlich unterschiedlicher Theorien, empirischer Evidenz usw.
Wie soll das auch gehen, wenn selbst die verantwortlichen Politiker häufig völlig fachfremd sind - und damit meine ich explizit nicht nur im Sinne wissenschaftlicher Bildung, sondern auch im Sinne praktischer Erfahrung oder langfristigen Interesses, und noch dazu von einem Politikbereich zum nächsten (vom Familien- ins Verteidigungsministerium o.ä.) verschoben werden... Es geht doch letztendlich vorwiegend darum, dass die oberste Hierarchieebene der jeweils herrschenden Parteien mit Ämtern versorgt wird. Das einzige, was die dann Auserwählten anderen Bürgern voraus haben, ist doch die Erfahrung im politischen Geschäft - da geht es aber eben gerade nicht um Expertise oder Kompetenz in Sachfragen, sondern um Dinge wie das Durchwerkeln von Entscheidungen zwischen Lobby- und Wählerinteressen, viel Kommunikation und PR - recht unabhängig davon, ob die Entscheidungen substanziell betrachtet sinnvoll sind. Wirkliche Expertise muss von außen kommen, und dieser Platz wird dann u.a. von Lobbyisten eingenommen.

Wenn man ein Losverfahren für relevante Positionen wirklich einführen wollte, wären doch auch Möglichkeiten denkbar, das mit einer gewissen Vorauswahl nach Kompetenz und Interesse zu verbinden: wer in die Losauswahl für bestimmte Positionen aufgenommen werden soll, müsste bspw. Tests absolvieren, langjähriges Interesse an der Thematik belegen, vorbereitende Kurse besuchen (das wäre im Zweifelsfall wohl die egalitärste Möglichkeit) o.ä... noch immer bliebe vermutlich ein sehr großer Pool an möglichen Funktionsträgern übrig (der bspw. korrumpierende Beeinflussungen zumindest vor den Losziehungen allein durch seine Größe erschweren würde).
 

streicher

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Es wäre auch zu viel verlangt, wenn Politiker, Regierungen, Abgeordnete die Antworten auf komplexe Fragen zur Hand hätten. Sie tun sich gut daran, gut beraten zu sein. Aber auch ein Wissenschaftler hat die Lösung nicht zur Hand und kann sich sehr wohl irren. Politiker stehen nicht alleine da: Minister könnten auf ihre Behörden zurückgreifen, deswegen gibt es Ausschüsse, deswegen ziehen sie sich Experten zu rate oder werden auch Experten zu Sitzungen eingeladen. Nur droht die politische Einflussnahme nicht mehr wirklich nachvollziehbar zu sein. Gewählt ist zum Beispiel der Abgeordnete, der sein freies Mandat hat, seine Entscheidungen seinem Gewissen unterordnet und mit Parteigeschlossenheit plus Fraktionsdisiziplin möglicherweise abstimmen muss. Allerdings kann der Lobbyismus diese schon schwierig zu koordinierenden Größen untergraben. Wer oder was ist mit dem gewählten Kandidaten also noch gewählt, um es überspitzt zu formulieren. Mit einem Mal kommt der Abgeordnete der Aufgabe der Vertretung der Wähler ein ganzes Stück weniger nach.
Deswegen nimmt es auch nicht wunder, dass auf die Veröffentlichung von Lobbyisten gedrängt wird (Diese Lobbyisten haben Zugang zum Bundestag). Sicher sind Lobbyisten insbesondere an der Zusammenarbeit mit regierenden Parteien interessiert. Wie breit Lobbyismus angelegt sein kann, verdeutlicht die Anfrage der Piraten in NRW, denn der Lobbyismus der Bertelsmannstiftung erstreckt sich dort quer durch die Parteien Lobbyismus: König Bertelsmann. Wer macht also die Politik?

@ Losverfahren
Die Ermittlung von Kompetenzen im Vorhinein ist durchaus ein interessantes Verfahren, um geeignete Eliten zu finden. Das ist auch nicht wirklich neu und wird in verschiedensten Institutionen auch angewandt, in den Vereinten Nationen zum Beispiel auch. Nur: wer wählt aus und entscheidet warum?
 

Giacomo_S

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hives schrieb:
Wenn man ein Losverfahren für relevante Positionen wirklich einführen wollte, wären doch auch Möglichkeiten denkbar, das mit einer gewissen Vorauswahl nach Kompetenz und Interesse zu verbinden: wer in die Losauswahl für bestimmte Positionen aufgenommen werden soll, müsste bspw. Tests absolvieren, langjähriges Interesse an der Thematik belegen, vorbereitende Kurse besuchen (das wäre im Zweifelsfall wohl die egalitärste Möglichkeit) o.ä... noch immer bliebe vermutlich ein sehr großer Pool an möglichen Funktionsträgern übrig (der bspw. korrumpierende Beeinflussungen zumindest vor den Losziehungen allein durch seine Größe erschweren würde).

Möglich ist vieles - aber das ist doch alles nur ein Kurieren an den Symptomen. Das Vertrauen in politische Organe ist nicht da, aus welchen Gründen auch immer, und daran muss gearbeitet werden.
Versucht man, das Misstrauen an den bisherigen politischen Eliten dadurch zu umgehen, indem man vorgeblich keine politischen Eliten mehr vorweist, dann ändert das gar nichts. Das ist der Versuch einer Entfernung von Ansatzpunkten, an denen die "Kritiker" ihre Hebel ansetzen wollen, mehr nicht.

Doch in kürzester Zeit werden Verschwörungstheoretiker, "Truther" und andere Spinner andere Zweifel säen: Das Losverfahren sei manipuliert, selbst wenn's mit Lottokugeln live im Fernsehen stattfindet, das Auswahlverfahren bevorzuge bestimmte Klassen und "Logen", die politischen Positionen existierten erst gar nicht und warum gebe man den Job nicht Elvis Presley, denn schließlich lebe der ja noch irgendwo in den Sümpfen von Louisiana.

Und es wird andere Trottel geben, die so etwas glauben (wollen).
 

hives

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Giacomo_S schrieb:
Möglich ist vieles - aber das ist doch alles nur ein Kurieren an den Symptomen. Das Vertrauen in politische Organe ist nicht da, aus welchen Gründen auch immer, und daran muss gearbeitet werden.
Versucht man, das Misstrauen an den bisherigen politischen Eliten dadurch zu umgehen, indem man vorgeblich keine politischen Eliten mehr vorweist, dann ändert das gar nichts. Das ist der Versuch einer Entfernung von Ansatzpunkten, an denen die "Kritiker" ihre Hebel ansetzen wollen, mehr nicht.

Doch in kürzester Zeit werden Verschwörungstheoretiker, "Truther" und andere Spinner andere Zweifel säen: Das Losverfahren sei manipuliert, selbst wenn's mit Lottokugeln live im Fernsehen stattfindet, das Auswahlverfahren bevorzuge bestimmte Klassen und "Logen", die politischen Positionen existierten erst gar nicht und warum gebe man den Job nicht Elvis Presley, denn schließlich lebe der ja noch irgendwo in den Sümpfen von Louisiana.

Und es wird andere Trottel geben, die so etwas glauben (wollen).

Ich befürchte, dass es nicht unser einziges Problem ist, wenn "Spinner" und "Trottel" ihre Thesen verbreiten. Vielmehr läuft in der Politik eben tatsächlich vieles falsch - Vertrauen kommt nicht von selbst. Katastrophale Nahost-Politik, die Förderung von Terrorismus in Kauf nimmt, langfristig zunehmende Ungleichheit, Querverbindungen zwischen Politik, Medien und Wirtschaft, kontinuierliche Zunahme an Populismus im Westen usw. - derartige Entwicklungen sind möglicherweise keine kleinen Probleme, die unsere Politik sicher lösen wird, wenn sie von den "Spinnern" in Ruhe gelassen wird, sondern Symptome einer potentiell destabilisierenden Entkoppelung von Politik und Bevölkerung.
 

Giacomo_S

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hives schrieb:
Katastrophale Nahost-Politik, die Förderung von Terrorismus in Kauf nimmt, langfristig zunehmende Ungleichheit, Querverbindungen zwischen Politik, Medien und Wirtschaft, kontinuierliche Zunahme an Populismus im Westen usw. - derartige Entwicklungen sind möglicherweise keine kleinen Probleme, die unsere Politik sicher lösen wird, wenn sie von den "Spinnern" in Ruhe gelassen wird, sondern Symptome einer potentiell destabilisierenden Entkoppelung von Politik und Bevölkerung.

Ist das ein Zitat aus dem Jahr 1980?
Jedenfalls kommt es mir so vor, denn das ist doch alles nichts Neues, weder in der Qualität noch in der Quantität.

Das Problem, in das sich politische Kreise in den letzten Jahren selbst hineingeritten haben, ist nicht, dass sie zu viel oder eine zu starke Politik gemacht haben, sondern zu wenig oder eine zu schwache.
Jedenfalls kommt das den Wählern so vor, denn genau aus diesen Gründen wählen sie jetzt (vermeintlich) "starke" Regierungen.

Zu oft haben sich in der jüngeren Vergangenheit die Wähler anhören dürfen, nicht die politischen Kreise seien für die Vermeidung oder zumindest Abmilderung von sozialen Verwerfungen verantwortlich.
Sondern "schuld" sind natürlich immer die anderen, nur nicht man selbst: Die Globalisierung, die Digitalisierung, die EU oder die Chinesen.
Also abstrakte Wolkengebilde, und China ist weit weg.

Wie kann es möglich sein, dass das wertvollste und reichste Unternehmen der Welt in Irland noch nicht einmal die ohnehin geringen Unternehmenssteuern bezahlt und "Sonderkonditionen" aushandelt? Das über Hunderte von Milliarden von US$ auf der Hohen Kante verfügt - und nichts, aber auch gar nichts davon einer Volkswirtschaft zurückgibt (Apple)? Nicht gezwungenermaßen, nicht freiwillig, denn von einer "Apple-Stiftung" hat noch niemand etwas gehört? Vergleichbar, Genauso: Google, Facebook, Twitter, Uber, Amazon ...
Die sich darüber hinaus dann noch als Wohltäter der Menschheit, zumindest aber als Weltverbesserer gerieren - aber als IT-Unternehmen nichts anderes machen, als den Kapitalismus noch rücksichtsloser zu beschleunigen und zu monopolisieren als jemals zuvor?

Wie können Regierungen das zulassen?
 

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Nur kurz zum Vergleich mit den 80ern:

- katastrophale Nahost-Politk? Check, aber ich würde sagen, die Auswirkungen (Terrorismus, Flüchtlinge) waren noch begrenzt, und die Wähler haben weniger davon mitbekommen... heute kann man das im Internet halt nicht nur bei Spinnern, sondern auch bei seriösen Journalisten - zur Not in ihrem Privatblog oder auf einem Sekundärmedium, wenn die eigene Zeitung es nicht veröffentlichen will - nachlesen...

- zunehmende Ungleichheit? Check, aber seitdem - mit kurzen landesspezifischen Unterbrechungen - nehmen eben Ungleichheit und auch andere Indikatoren wie Armutsrate fast kontinuierlich zu... in den USA ist man bspw. vermutlich bald wieder auf dem Niveau von 1930-1940 angekommen...

- Verbindungen zwischen Politik, Medien und Wirtschaft? Check, aber sie treten eben immer klarer zu Tage, die Berichterstattung wird immer einseitiger, der fehlende Einfluss von Mehrheiten gegen wirtschaftliche Interessen bei wichtigen Entscheidungen wird immer offensichtlicher und inzwischen wird sogar schon ernsthaft ganz offen Zensur und ein Wahrheitsministerium gefordert...

- Wahlerfolge von Rechtspopulisten in Europa? Check, aber seitdem haben sie in fast allen europäischen Ländern massiv an Bedeutung dazugewonnen. Ich finde dazu gerade keine einheitliche Veranschaulichung über den ganzen Zeitraum für alle Länder, aber hier etwas Evidenz dazu:
Norris (2005) zeigt das durchschnittliche Wahlergebnis von "seven radical right-wing parties in Europe": 1980 unter 6%, seitdem steigend bis 1997 auf etwa 14%, dann bis 2004 schwankend zwischen 13 und 16%. Seitdem haben rechtspopulistische Parteien in vielen Ländern weiter massiv zugelegt (ich glaube so ziemlich die einzige Ausnahme ist Belgien), teils auf über 20% in den verschiedenen Wahlen zwischen 2012 und 2015 (bspw. Danish People's Party in Dänemark, Jobbik in Ungarn, FPÖ) und das war weitgehend noch vor dem Sommermärchen 2015, dem Aufstieg der AfD, Brexit, Turmp usw...
 
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