Tschernobyl

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Das Lenin-Kraftwerk, das im Allgemeinen mit dem Synonym "Tschernobyl" umschrieben wird, liegt im Grenzgebiet der Ukraine und Weissrussland. Als Standort wurde dazu ein sumpfiges Waldgebiet am Fluss "Pripjat" gewählt. Am 26.4.1986 ereignete sich in Block 4 des Kraftwerkes eine Kastrophe mit der höchsten Einstufung auf der INES-Skala: Stufe 7 - (Katastrophaler Unfall). Tschernobyl war somit der schwerste nukleare Unfall bis zum heutigen Tage.
Für die im Lenin-Atomkraftwerk, dem Vorzeigeobjekt der UdSSR beschäftigten Menschen, wurde die Stadt Pripjat geschaffen, von der aus es lediglich vier Kilometer Entfernung zum Kernkraftwerk sind. Um das AKW herum befanden sich zum Zeitpunkt der Katastrophe 76 Siedlungen im Umkreis von 30 km.

Kernreaktoren sind gewissermaßen Abfallprodukte aus der Erzeugung von waffenfähigem Plutonium. 1944 wurden in den USA die ersten graphitmoderierten Reaktoren zu diesem Zweck entwickelt, doch erst später kam man auf den Gedanken, die bei der Plutoniumproduktion enstehende Wärme zu nutzen.

Das Funktionsprinzip des Kernreaktors von Tschernobyl:
Block 4 des AKW bei Tschernobyl wurde nach dem Prinzip eines Siedewasserreaktors mit Leichtwasser ("normales" Wasser) entworfen. Der Reaktor wurde so konzipiert, dass er gleichfalls waffenfähiges Plutonium produzieren kann.
Zum Einsatz kommen in Rohre eingebrachte Pellets, die zu circa 3% mit Uran-235-Oxid angereichert wurden, wobei beim Zerfall des Uran hochenergetische Neutronen - im Mittel 2,43 Neutronen je Atomkern - freigesetzt werden. Diese Neutronen treffen auf zwei oder drei weitere Atomkerne und lösen damit im Prinzip eine Kettenreaktion aus, wie sie von der Atombombe bekannt ist. Zusätzlich emittieren die Spaltprodukte des Uran sogenannte "verzögerte Neutronen", zum Beispiel lässt sich Brom-87 ganze 55,7 Sekunden Zeit dazu und Antimon-135 gibt nach 1,7 Sekunden ein Neutron ab.

Damit es jedoch nicht zu einer unkontrollierbaren Kettenreaktion kommt, werden die Neutronen unter anderem in Graphitblöcken verlangsamt. Denn die aus der Uranspaltung entstandenen schnellen Neutronen jagen mit einer Geschwindigkeit von circa 2000 km/s durch die angrenzenden Brennstäbe. Das Problem ist nur, dass diese schnellen Elektronen eine geringe Verweildauer in den angrenzenden Atomkernen aufweisen, womit die Wahrscheinlichkeit einer Spaltung erheblich sinkt bzw. den Reaktor ohne Wirkung verlässt. Das ist der Grund, weshalb sie durch den Graphitblock auf etwa 2 km/s gebremst werden. Man spricht daher auch von einem graphitmoderierten Siedewasserreaktor - in unserem Fall einem Siedewasser-Druckröhrenreaktor.

Mit der Eintauchtiefe der Steuerstäbe, die einen andersartigen Moderator ( Bor-, Cadmium- oder Gadoliniumverbindungen) zur Absorbtion der Neutronen besitzen, wird die Reaktion gebremst bzw. "sich selbst überlassen".
Zur Kühlung der Brennstäbe bzw. zur Dampferzeugung in den anzutreibenden Turbinen sind die Brennstäbe in Wasser gebettet, das durch eine Umwälzpumpe im Kreislauf bewegt wird.

Im Falle des RBMK (übersetzt: "Reaktor großer Leistung mit Kanälen") bedeutet das, dass je zwei Brennelemente mit jeweils 18 Brennstäben in einer Drückröhre untergebracht sind, die als eine von circa 1600 Druckröhren mit Wasser unter Druck umspült wird. Dieses komplizierte System hat den Vorteil, dass Brennstäbe im laufenden Betrieb entnommen und - mittlerweile mit waffenfähigem Plutonium angereichert - weiter genutzt werden können.

Im Reaktortypen "RBMK", wie er seit 1986 nicht mehr gebaut wird, gibt es nur einen einteiligen Kühlkreislauf, der zur Dampfturbine hin verzweigt ist. Der bei der Erhitzung entstehende Dampf wird in einem Dampfabscheider vom Wasser getrennt und direkt in die Turbine zur Stromerzeugung geleitet. Das Wasser aus dem Abscheider wird - wie der kondensierte Dampf der Turbinen, wieder in den Kühlkreislauf eingeleitet.

Dieses Prinzip erzielt eine höhere Effizienz als Siedewasserreaktoren mit getrennten Kreisläufen und Wärmetauschern, doch das kontaminierte Kühlwasser verstrahlt damit auch direkt die Turbinen - womit die Wartung bzw. der Austausch von Aggregaten risikobehafteter ist. Bei anderen Reaktortypen wird beim Ausfall der Speisewasserpumpen die Reaktion durch den negativen Dampfblasenkoeffizienten gebremst. Das liegt daran, dass bei anderen Reaktortypen das Wasser als Moderator fungiert. Der Graphitmoderator erzeugt einen positiven Dampfblasenkoeffizienten - das bedeutet, dass die Reaktionen nicht abgebremst werden. Statt dessen überhitzen sich die Brennstäbe und werden unbrauchbar. Das Risiko ist bei 1600 Druckröhren entsprechend hoch.

Kritisiert wird diese Bauweise durch Kernenergieexperten vor allem, weil eine innere Schutzhülle (Containment) fehlt. Die großen Mengen brennbaren Graphits bergen ebenfalls hohe Risiken bei Eindringen oder Entstehen von Sauerstoff - genau wie die gleichmäßige Druckverteilung aus den Speisewasserpumpen eine schwierig zu lösende Aufgabe ist. Zudem herrscht mangelnde Redundanz an Sicherheitssystemen und das Einfahren der Regelstäbe im Falle einer Havarie erfolgte viel zu langsam.

Solche Gegebenheiten sind in Deutschland nicht zu erwarten. Fünf Siedewasserreaktoren sind derzeit noch in Deutschland in Betrieb. Als Moderator dient normales Wasser, so braucht es keine Führungen, in denen sich Steuerstäbe verklemmen können. Zudem können die Steuerstäbe erheblich schneller (3 cm/s) eingefahren werden.

Das am schlechtesten gesicherte Siedekraftwerk Brunsbüttel ist "nur" mit 60 cm Stahlbeton-Containment geschützt, gefolgt vom Siedewasserreaktor Philippsburg Block 1 und dem Druckwasserreaktor Biblis Block A. Doch bezieht sich dies auf die gestiegenen Ansprüche an die Reaktorsicherheit im Bezug auf Terrorangriffe. Sicher sind sie deshalb nicht, der Reaktor Brunsbüttel z. B. lagert die nicht eingesetzten Brennstäbe oberhalb des Sicherheitsbehälters.
Der RBMK - Typ jedoch wäre in Deutschland nie zugelassen worden, da er im Normalbetrieb über die Maße unzulässige radioaktive Emissionen freisetzt.


Im Lenin-Kraftwerk wurden ursprünglich dieselbetriebene Notstromgeneratoren angeschafft. Sie sind nötig, um die Stromversorgung für das Kraftwerk selbst zu sichern, falls die externe Grundversorgung abbricht. Da dieser Dieselgeneratortyp 40 - 50 Sekunden Zeit braucht, um gestartet zu werden und den Notstrom bereitzustellen, fragte man sich entsprechend, ob die auslaufenden Dampfturbinen im Falle eines Stromausfalles den Reaktorkühlkreis noch so lange in Bewegung halten können, bis die Dieselgeneratoren angesprungen sind und die Speisewasserpumpen wieder betrieben werden können.

Dieser Test wurde bereits im Jahre 1985 im Block 3 der Kraftwerksanlage durchgeführt, doch erst kürzlich installierte, neue Spannungsregler sollten nun das 1985 negativ ausgefallene Testergebnis durch vorschnellen Spannungsabfall revidieren.
Als Termin für diesen Test wurde der 25. April 1986 gewählt - direkt am Beispiel des 925 Megawatt-Reaktors, der am 25. April 1986 um 01:00 Uhr zwecks Revision - dem Austausch gegen frische Brennelemente - heruntergefahren wurde.

Die nun folgenden Uhrzeitangaben nach Ortszeit sind unter anderem das Resultat aus Zeugenaussagen, Schätzungen und Versuchsberechnungen. Sie differieren bei vielen Quellen, weil es auf das Vorgehen des Versuchsszenarios zurückzuführen ist. Viele der Anzeigen, die der Instrumentierung der gängigen Betriebswerte dienten, wurden für eine möglichst umfassende Datenaufzeichnung des Experimentes zweckentfremdet. Es soll dazu auch die Instrumentierung der Reaktorparameter massivst eingeschränkt worden sein, was eine eindeutig wahnsinnige Handlung darstellt.

Man begann das Experiment am 25. April 1986 gegen 13:00 Uhr Ortszeit am laufenden Reaktor, um bei einem Scheitern den Versuch in kürzester Zeit erneut starten zu können. Dass das Testszenario unter Betriebsbedingungen klar gegen die geltenden Sicherheitsvorschriften verstieß, wurde schlicht ignoriert und auch den zuständigen Behörden gegenüber verschwiegen.

Um dieses Experiment realistisch zu gestalten und vor allem den Probelauf ungestört zu fahren, wurde der sogenannte "Havarieschutz" umgangen. Diese Schutzmaßnahme enthält alle wichtigen Sicherheitseinrichtungen, wie die Notkühlung und das Einfahren der Steuerstäbe zwecks Unterbrechung der Reaktion in den Graphitmoderator.
Doch das Experiment wurde gegen 14:00 Uhr abgebrochen und um neun Stunden auf den 26.04.1986 verschoben. Der Lastverteiler aus Kiew hatte einen höheren Energiebedarf angemeldet und zwang die Mannschaft zur Inbetriebnahme einer Dampfturbine. Dabei unterlief dem Bedienpersonal bei der Reaktivierung der Havarieeinrichtungen ein schwerwiegender Fehler:
Die Notkühlung war vergessen worden und würde im Bedarfsfall isoliert im Kreis fördern, ohne dabei die Druckröhren beschicken zu können.

Um 23:10 Uhr bestand von Seiten des Lastverteilers in Kiew kein weiterer Energiebedarf durch Block 4, so dass nun mit dem Experiment begonnen werden sollte.
In dieser Nacht des 26. April wurde nun eine unvorbereitete Nachtschicht mit einer Versuchsanordnung konfrontiert, die den Reaktor schutzlos machen sollte.
Samstag, 26. April 1986:
Vermutlich durch einen Bedienungsfehler des unerfahrenen Reaktoroperators Leonid Toptunow fiel die Reaktorleistung zur Zeit der Versuchsvorbereitung um 0:28 Uhr nicht auf geplante 25% der Nennleistung des Reaktors - dies entspricht circa 230 MW - herab. Die Reaktorleistung sank auf unter 1% bis 3%, wobei allein diese niedrigen Werte zur Sicherheitsabschaltung gezwungen hätten. Ein Betrieb unter 20% der Nennleistung war nicht zulässig.

Um die urplötzlich abgefallene Leistung wieder auf das Sollniveau zu bringen, entschieden die Reaktoroperatoren, alle bis auf 6 oder 8 Steuerstäbe langsam aus dem Graphitblock herauszufahren, bis die gewünschte Reaktorleistung erreicht wird. Damit unterschritten sie die empfohlene Grenze von 28 bzw. die operationale Reaktivitätsreserve von 15 verbleibenden Steuerstäben, die als Minimum an zu steuernden Absorberstäben in diesem Reaktor einzusetzen waren und erreichten dazu lediglich 7% der Reaktorleistung. Durch das bestehende Unterschreiten der 20% Reaktorleistung und der Anzahl der verbleibenden Regelstäbe - was unter aktiviertem Havarieschutz zur automatischen Abschaltung geführt hätte - war der Reaktor schwer zu bedienen und befand sich somit kurz vor einer unbeherrschbaren Kettenreaktion. Doch das Gefahrenpotenzial war den Technikern nicht bewusst und sollte ihnen später sogar zum Verhängnis werden. Der immer noch schwer beherrschbare Reaktor erreichte nun eine Leistung von circa 200 MW, die zur Durchführung des Experimentes ausreichen sollte.
Um 0:43 Uhr wird beschlossen, einen Geber zu deaktivieren, der mit seinem Notsignal zur Abschaltung des Reaktors geführt hätte - eine Maßnahme zur schnellen Wiederholung des Versuches. Gegen 01:00 Uhr hatte der zuständige Techniker den Reaktor mit einer konstanten Leistungsabgabe von 7% unter Kontrolle - allerdings bei zu vielen zur Regelung eingesetzten Steuerstäben.

Nun befahl der stellvertretende Chefingenieur, Anatolij Djatlow, den Start des Experimentes.

Bei Beginn um 01:03 Uhr schalteten die Operatoren jedoch alle verfügbaren Speisewasserpumpen zu, so dass der auf niedriger Leistung arbeitende Reaktor das ihn umfließende Wasser nicht mehr verdampfen konnte. Die operationale Reaktivitätsreserve wurde dabei weiter unterschritten. Die automatischen Regelsysteme sorgten nun für das weitere Ausfahren von Regelstäben aus dem Moderator heraus, um auf Temperatur zu kommen - durch die Havarieabschaltung konnte dies auch mit weniger als 15 Steuerstäben geschehen. Das Wasser begann nun zu kochen und erste hydraulische Schläge waren zu hören, doch dies waren die Auswirkungen aus steten Druckschwankungen und einem schwankenden Wasserspiegel. Der Schichtleiter Akimow und sein Kollege Toptunow wollten das Experiment stoppen, doch Djatlow ließ es gegen 1:19 Uhr unter Abschaltung der Wasserstands- und Drucküberwachung fortsetzen. Der Speisewasserdurchsatz lag immer noch ein Drittel unter dem Minimum als es drei Minuten später gelang, die Kühlwasserspeisung konstant zu halten.

Nun gibt es zwei Versionen zum Unfallhergang:
Nach der ersten Version schaltete die Bedienungsmannschaft gegen 1:23 Uhr den Strom der Speisewasserpumpen ab. Nur die Auslaufenergie der Dampfturbinen trieb die Speisewasserpumpen noch an und es floss entsprechend weniger Kühlwasser durch die Druckwasserrohre. Das Wasser wurde besser aufgeheizt, nun aber bildeten sich zusätzliche Dampfblasen, mit denen nach dem Prinzip des RBMK und seines positiven Voidkoeffizienten die Aktivität des Reaktorkerns zusätzlich gesteigert wird. Innerhalb von 30 Sekunden schnellte die Reaktorleistung durch die Dampfblasenbildung von 200 MW auf etwas mehr als 500 MW hoch.

Die zweite Version des Unfallherganges nennt eine Schließung der Turbinenschnellschlussventile.
Mit der Schließung stieg der Druck in den Brennstoffkanälen an und löste damit das Ausfahren einer Gruppe von Steuerstäben aus. Der erhöhte Druck führte gleichfalls zur Minderung der Kühlwasserdurchflussmenge, womit die Temperatur zu sehr ansteigt. Um die Temperatur zu senken, wurde eine Gruppe von Regelstäben eingebracht. Innerhalb von 30 Sekunden schnellte die Reaktorleistung durch die Dampfblasenbildung von 200 MW auf etwas mehr als 500 MW hoch.

Nach dem verfahrenstechnischen Verständnis der Ask1-Redaktion sind beide Versionen schlüssig, wobei unserer Ansicht nach die erste Schilderung des Ablaufs am ehesten im Einklang mit dem Versuchsziel steht, welches auch in der zweiten Version genannt worden ist.

Zu diesem Zeitpunkt wäre der "Havarieschutz" in beiden Versionen angelaufen und hätte die Katastrophe verhindert. Aber der war komplett abgeschaltet bzw. für den Versuch bewusst manipuliert worden. Da auch die Regelung der Steuerstäbe nicht angemessen schnell reagierte, befahl Schichtleiter Akimov nur 36 Sekunden nach Beginn des Experimentes die manuelle Notabschaltung des Reaktors.

Sofort werden die über 200 neutronenabsorbierenden Steuerstäbe, die nicht in der aktiven Zone sind, in dem Graphitmoderator eingefahren. An diesem Punkt entblößt der Reaktor vom Typ RBMK seine gravierenden Konstruktionsfehler. Die Geschwindigkeit, mit der die Brennstäbe eingefahren werden ist deutlich niedriger, als in westlichen AKWs. Erst nach bis zu 20 Sekunden ist ein Steuerstab in diesem Reaktortyp völlig eingefahren. Zusätzlich befinden sich an der unteren Spitze der Steuerstäbe Graphitköpfe, die die Kettenreaktion nochmals kurzzeitig beschleunigen. Dieser Konstruktionsmangel des RBMK führte nun genau zum gegenteilig gewünschten Effekt. Da die Graphitspitzen zuerst eingeführt wurden, stieg die Leistung des Reaktors für einen Moment sprungartig an und damit war dies der letzte Hieb für den Reaktor.
Nun hatten sich durch die extreme Hitze im Reaktorkern die Führungskanäle der Steuerstäbe verformt, so dass sie verklemmt und nicht mehr in den Graphitblock zu versenken waren. Beinahe alle reaktionsbeschleunigenden Graphitköpfe waren direkt im Graphitmoderator des Reaktorkerns positioniert.

Die Katastrophe war nicht mehr aufzuhalten. In nur vier Sekunden stieg die Reaktorleistung auf geschätzte 100.000 Megawatt an. Die weit überschrittene Belastungsgrenze brachte die Brennstäbe wie Druckrohre zum Bersten, das Kühlwasser kann seinen Zweck nicht mehr erfüllen. In der sogenannten "aktiven Zone" entstanden nun durch eine chemische Reaktion des Zirkoniums (umhüllt die Brennstoffkammern, die mittlerweile gebrochen waren) mit dem Wasserdampf die Gase Wasserstoff und Sauerstoff, die in dieser Mischung ideal explosionsfähig sind. Zusätzlich liefert der frei gewordene Sauerstoff auch gleich die Nahrung für das glühend heiße Graphit.

Dieser Vorgang nahm gleichfalls nur wenige Sekunden in Anspruch, jetzt wurde der Reaktor und alles was ihn umgab, durch zwei riesige Explosionen im Abstand von geschätzten drei Sekunden zerrissen. Reste des Graphitblockes gingen sofort in Flammen auf, die Brennstäbe schmolzen in der Hitze über 2.000 °C. Glühende, umherfliegende Teile entzünden die Teerdachpappe des benachbarten dritten Kraftwerkblocks.
Innerhalb kurzer Zeit gab es viele weitere, dicht aufeinander folgende Explosionen. Durch die Explosionen wurde fast das gesamte Reaktorinventar herausgeschleudert. Als mit der ersten Explosion das circa 1.000 t schwere Dach der Reaktorhalle weggerissen wurde, konnten die Menschen in der Nähe rötlich braune Flammen bei starker Rußentwicklung beobachten. Die Rauchsäule war beinahe 100 Meter hoch. An den umliegenden Gebäuden entstanden zahlreiche Brände, hervorgerufen durch Trümmer, Graphit aus dem Reaktorund anderen Brennstofffragmenten. Im Umkreis von mehreren 100 Metern fielen schwere Maschinenteile durch die Explosion zu Boden.

In dieser Nacht hielten sich gleich neben dem Kraftwerk am Kühlkanal Angler auf. Sie waren nur wenige 100 m von Katastrophenort entfernt und erlitten kurze Zeit später schwere innere als auch äußere Verbrennungen durch die freigesetzte Gammastrahlung. Radioaktive Gase begannen sich auszubreiten, die auch von den Anglern eingeatmet wurden.
Die gesamte umliegende Luft war gefüllt mit radioaktiven Gasen - in den ersten Tagen vor allem (Halbwertszeit in Klammern) Jod-131 (8,2d) und -132 (2,3h), Cäsium-134 (2,06a) und -137 (30,17a) , Strontium-90 (28,5a) sowie Tellur-127 (9,35h).

Die verantwortliche Schicht stand zunächst unter Schock, begann aber schnell nach den Ursachen zu forschen. Einige Techniker begaben sich in den zentralen Teil des Reaktors, um dort die Strahlendosis zu messen. Doch die Messbereiche der Geräte waren für die enormen Strahlungsbelastungen nicht ausgelegt.
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Foto : Der zerstörte Reaktor wird bereits mit einer Schutzhülle versehen (Quelle)
Den Technikern war zwar nicht klar, was passiert war aber sie ahnten noch nicht, dass der Reaktor bereits völlig zerstört war. Die Bedeutung der Tatsache, dass überall Graphitstücke, Teile der Brennstoffkanäle (in denen die Brennstäbe sitzen) und Druckrohre herumlagen, war den Technikern ebenfalls nicht bewusst. Ihnen war einzig klar, dass gewaltige Mengen radioaktiver Substanzen in die Umwelt gelangt sein mussten.
Auf dem Werksgelände des Lenin Kraftwerks lag die radioaktive Dosisleistung bei mehreren 100 Millisievert pro Stunde.

Dieser Wert ist also 1.000.000 mal größer im Vergleich zur natürlichen Strahlung.
Die Strahlenwerte entstanden durch eine radioaktive Wolke, die sich über dem havarierten Reaktorblock gebildet hatte. Die heiße radioaktive Rauchwolke war inzwischen beinahe einen Kilometer hoch in den windstillen Nachthimmel gestiegen. Die Auswirkungen dieser radioaktiven Wolke waren nun auch in der 3 km entfernten Stadt Pripjat mit mehreren Millisievert pro Stunde nachweisbar.
Mittlerweile waren die Feuerwehrmänner auf dem Dach und dem Gerüst des Schornsteins darum bemüht, den Reaktorbrand zu löschen. Doch die radioaktive Strahlung war immens hoch, so dass selbst ein kräftig ausgebildeter Organismus derart hohe Dosen nur für kurze Zeit verkraften kann.

Die Dosisleistung über dem Reaktor betrug zum Teil beinahe 200 Sievert pro Stunde, aufgeteilt auf 20 Personen bedeutete diese Dosis den Tod innerhalb einer Stunde. Bei 200 Sievert pro Stunde hat ein erwachsener Mensch die tödliche Strahlendosis bereits nach 3 Minuten erreicht und so war es nicht verwunderlich, dass einige Feuerwehrmänner oder zu Hilfe geeilte Techniker nach wenigen Minuten unter Krämpfen zusammenbrachen.
Währenddessen versuchten die Feuerwehrmänner weiter, circa 1700 t rot glühendes Graphit im Reaktor durch Unmengen von Wasser zu löschen. Was die Helfer vor Ort nicht bemerkten, war das auslaufende Speisewasser aus abgerissenen Verbindungen, das zusammen mit dem Löschwasser in die Kellersysteme floss. Doch das Kellersystem war direkt mit den anderen Reaktorblöcken verbunden und so gefährdete das hochradioaktive Wasser zudem die elektrischen Systeme der anderen Reaktorblöcke. Es gelang den Feuerwehrleuten nicht, das gigantische mit radioaktiven Spaltprodukten durchsetzte "Kohlebrikett" zu löschen. In dieser Nacht bedeutete das Reaktorunglück für 31 Menschen den sicheren Tod.

Von den insgesamt 600 eingesetzten Hilfskräfte wurden innerhalb von 24 Stunden 237 Menschen nachweisbar mit akuten Beschwerden infolge der radioaktiven Einwirkung im Krankenhaus behandelt. Sie litten unter schwerer Übelkeit und Erbrechen und ihre verbrannte Haut infolge der radioaktiven Strahlung war rotbraun gefärbt.

Die durch das Reaktorunglück entfachten Brände der angrenzenden Gebäude waren am Morgen des 26. April 1986 gelöscht worden, als Experten aus der gesamten Sowjetunion den Unglücksort erreichten. Die Kettenreaktion im Reaktor geriet zwar zum Erliegen, doch die Nachzerfallswärme erhitzte den Reaktor immer noch derart, dass angrenzende Betonträger und Teile des biologischen Schildes (äußerer Stahlbetonmantel) inzwischen weiß glühten.
Nun wurde allmählich die Tragweite der Katastrophe erfasst, der Notstand ausgerufen und ein Koordinationszentrum gebildet. Die enormen Werte, die durch die Radioaktivität hervorgerufen wurden, zwangen zur Aufgabe des Koordinationszentrums in der Notstandswarte in den Kellerräumen am anderen Ende des Reaktors. Zunächst nach Pripjat, wurde das Koordinationszentrum zuletzt in das 15 km entfernte Tschernobyl verlegt. Nun waren Spezialtruppen des Militär, das KGB, wissenschaftliche Experten und Sanitätshelfer herbeigerufen. Das Gebiet rund um das Kernkraftwerk wurde weiträumig abgeriegelt.

Militärhubschrauber wurden eingesetzt, um den Brand mit Sand und anderen brandhemmenden Mineralien zu ersticken und mit dem zusätzlich abgeworfenen Blei die Strahlung abzuschirmen. Zu diesem Zweck wurden unvorstellbare 2400 t Blei und 1800 t Sand in den Reaktorkern geschüttet. Außerdem wurden 800 t Dolomit 40t Borkarbid zur Erzielung einer endothermen Reaktion über dem havarierten Reaktor abgeworfen. Doch der Effekt, den man zu erzielen hoffte, blieb aus. Die radioaktive Strahlung nahm zu. Der verschüttete Reaktorkern erhitzte sich, da sich unter den abgeworfenen Löschmitteln ein Stau gebildet hatte - zuletzt wurde versucht, den Reaktorkern mit Stickstoff zu kühlen. Erst zwei Wochen nach dem Reaktorunglück bekam man die radioaktiven Emissionen und die Wärmeentwicklung unter Kontrolle.


Die ca. 60.000 Einwohner Pripjats wurden erst 36 Stunden nach dem Unglück informiert. Es wurde eine Ausgangssperre verhängt und neben dem Schließen von Fenstern und Türen aufgefordert, sich in das Innere seiner Wohnung zu begeben. Mit dieser Maßnahme sollte die Strahlenbelastung verringert werden. Es erfolgten Aufrufe über den Rundfunk sowie über Lautsprecherdurchsagen, nach denen die Menschen das Nötigste bereit legen und sich bis zum Zeitpunkt der Evakuierung abfahrtbereit bereit halten sollen. Da sämtliche Haustiere zurück bleiben mussten, beruhigte man die Menschen unter dem Vorwand, dass die Evakuierung nur für drei Tage Bestand haben sollte.

Um einer Panik vorzubeugen, wurde der Beginn der Evakuierungen zur Nachtzeit geplant. In nur drei Stunden wurden mehr als 50.000 Einwohner - darunter 17.000 Kinder - mit 1200 Bussen aus der Stadt gebracht. Vor dem nächsten Kontrollpunkt stauten sich die Busse auf einer Länge von 15 km, während unaufhörlich Kettenfahrzeuge, Spezialtransporter sowie Lastwagen und Busse mitten in der Nacht in die entgegengesetzte Richtung fuhren.

Kaum jemand wusste um die Katastrophe - auch in Europa war darüber nichts bekannt gewesen.
In einem Umkreis von 30 km um das Lenin-Atomkraftwerk herum wurden in der Nacht vom 4. bis zum 5. Mai 1986 über 115.000 Menschen in drei Etappen evakuiert. Allerdings war diese Verzögerung eine Entscheidung der Parteifunktionäre, nach deren Willen die Feierlichkeiten zum 1. Mai nicht gestört werden sollten Insgesamt wurden 76 Ortschaften geräumt und unter die Kontrolle des Militär gestellt. Die mit dem 1. Mai 1986 begonnenen Kontrollen des Trinkwassers und der Milch führten erst am 23. Mai 1986 zu einer offiziellen Verteilung von Jod-Präparaten zum Schutz der menschlichen Schilddrüsen. Doch der Großteil der radioaktiven Jod-Isotope wurde in den ersten 10 Tagen des Reaktorzwischenfalls freigesetzt, so dass diese Maßnahme eher als unwirksam betrachtet werden kann. Abgesehen davon, dass die Medikation aus medizinischer Sicht zu spät eingesetzt und die Schilddrüsen schon längst mit radioaktivem Jod gesättigt werden konnten, beträgt die Halbwertszeit von Jod-131 durchschnittlich acht Tage. Nach soviel vergeudeteter Zeit hatte das Jod ausreichend Zeit, seine Wirkung zu entfalten und dürfte bis dahin beinahe abgebaut worden sein.

Für die vielen evakuierten Menschen mussten nun zusätzliche Gebäude errichtet werden. Zwischen 1986 und 1987 wurden allein 23.000 Häuser, 800 Gebäude für soziale Einrichtungen und Polizeistationen gebaut sowie weitere 15.000 Wohnungen zur Verfügung gestellt. Die Stadt Slavutch wurde gegründet, in der zumeist die Bevölkerung von Pripjat untergebracht wurde.

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Foto : Kontrollpunkt in die Todeszone. Zutritt nur mit Sondergenehmigung (Quelle)
Im Sommer 1986 wurde im Radius von 10 km eine Sperrzone errichtet, die Kontrollzone wurde mit einem Radius von 30 km eingerichtet. Heiße Stellen - Terrain mit einer Strahlenbelastung von mehr als 15 Curie - wurden außerhalb der Kontrollzone gesondert umzäunt.
Anfangs scheute die sowjetische Regierung keine Anstrengung, den Reaktorunfall und seine Auswirkungen herunterzuspielen. Insgesamt wurden bis 1989 circa 800.000 Hilfskräfte bei den Aufräumarbeiten eingesetzt. Die Arbeiten mussten dabei in radioaktiver Umgebung durchgeführt werden.

Im Jahre 1983 machten Techniker des Kernkraftwerks Ignalina 1 - einem Reaktor des gleichen Typs mit 1500 MW Leistung, der in diesem Jahr ans Netz ging - sie selbe Beobachtung beim gleichzeitigen Einfahren zu vieler Steuerstäbe auf einmal. Diese Erfahrung war jedoch nicht an die Betriebsmannschaft in Tschernobyl weitergegeben worden. Der Schichtleiter konnte von dieser Besonderheit und Konstruktionsschwäche nicht wissen. Die Behörden leugneten lange Zeit die Unterlassung der Weitergabe dieser Information und verurteilten Schichtleiter Akimov auf dieser Grundlage zu einer Haftstrafe.

Nachdem das Ausmaß des Reaktorunglücks bekannt war, wurde der sowjetischen Regierung technisches Gerät aus Deutschland zur Verfügung gestellt. Es handelt sich dabei zum Beispiel um ferngesteuerte Roboter, die beim havarierten Reaktor eingesetzt wurden. Doch die enorme Strahlenbelastung zerstörte die Elektronik der Hilfsroboter, so dass diese in kurzer Zeit als verstrahlter Schrott endeten. Insgesamt wurden durch das Reaktorunglück mehr als 600.000 t Metall kontaminiert - dazu gehört ebenfalls das schwere Gerät, das bei den Aufräumarbeiten eingesetzt wurde.
Es wurden Unmengen von Beton unter den Reaktor gepumpt. So sollte verhindert werden, dass die radioaktive Mischung aus 200 t Uran, Plutonium und geschmolzenem Graphit nach dem Prinzip des China-Syndroms durch den Reaktorboden schmelzen konnte.

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Foto : Isoliert mit dem bereits zerfallenden Sarkophag (Quelle)
Im Zeitraum von Mai bis Oktober 1986 wurden unter anderem ferngesteuerte Bagger, Planierraupen, Schwerlastkräne und große Transporthubschrauber zur Errichtung des sogenannten Sarkophages eingesetzt. Der Sarkophag ist eine Schutzhülle aus Schutt, Beton und Stahl, die den Reaktorkern umschließen soll. Es handelt sich dabei jedoch um ein Provisorium mit einer damals geschätzten Haltbarkeit von 20 bis 30 Jahren. Die Stabilität des Sarkophages wird vor allem durch das mögliche Durchrosten der eingesetzten Stahlträger gefährdet.

Dadurch, dass der Sarkophag in großer Eile errichtet wurde, steigt noch einmal mehr das Risiko der Instabilität.

Im Jahre 1997 wurde von den G7-Staaten, der EU, Russland und der Ukraine gemeinsam mit der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ein Plan entwickelt, nachdem der Reaktor von einer neuen, 20.000 t schweren Schutzhülle überdeckt werden soll. Mit der geschätzten Fertigstellung des neuen Sarkophages im Jahr 2008 werden ungefähr 768 Millionen € ausgegeben worden sein.

1989 wurde der Bau zur Erweiterung des Lenin-Kraftwerkes durch die Reaktorblöcke fünf und sechs eingestellt. Langwierigen internationalen Verhandlungen ist es zu verdanken, dass die russische Regierung den gesamten Reaktorkomplex von Tschernobyl am 12.12.2000 stillgelegt hat. Mit der Abschaltung des letzten Reaktors wurden Konzepte vorgestellt, nach denen die längst überfällige Sanierung des größten atomar verstrahlten Gebietes der Erde eingeleitet werden soll. Denn der Sarkophag wurde schneller instabil als erwartet. Umwelteinflüsse haben schon lange dafür gesorgt, dass mehr als 1000 m² der bestehenden Schutzhülle löchrig sind. Im Dachbereich drang bereits im Jahr 2000 Regenwasser durch die Schutzhülle. Die auf der Außenverkleidung angebrachten Metallplatten rosten bereits, wobei damit auch gleichfalls eine Wand einzustürzen droht. Bereits im Jahr 2000 trat aus dem Bereich der Decke derart viel Gammastrahlung aus, dass ein Arbeiten auf dem Dach nicht möglich war. So wurde damit begonnen, mit der Überbauung einer der größten Hallen der Welt einem drohenden Zusammenbruch des Sarkophages entgegenzutreten. 240 m Breite, 180 m Länge und beinahe 85 m Höhe - das sind die Dimensionen der Halle, mit deren Hilfe der Rückbau des Katastrophenreaktors mit dem Jahr 2005 begonnen werden soll.

In einem in Deutschland entwickelten Verfahren, das bereits von den russischen Behörden genehmigt wurde, soll der kontaminierte Stahl geschmolzen werden. Die dabei entstehende Schlacke wird abgezogen, so dass circa 95% des übrig gebliebenen Stahls wieder verwertet werden können. Heikel dürfte die Entsorgung der mittlerweile keramikartigen Massen im Inneren des Reaktors sein. Eingeschlossene Brennstofffragmente bilden sogenannte Hot-Spots, deren Strahlendosis immer noch mehrere Sievert pro Stunde beträgt.
Die kontaminierten Landschaftsflächen werden bis heute regelmäßig auf ihre Strahlenwerte untersucht. Bei Erreichen von unkritischen Werten erfolgt eine schrittweise Freigabe ehemals gesperrter Flächen. Nach und nach wird die Region wieder nutzbar gemacht, doch eine Wiederbesiedlung im Nahbereich des ehemaligen Kraftwerks ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.
Innerhalb der kontaminierten Gebiete wurde stark verseuchtes Erdreich schichtweise abgetragen oder mit Sand und Schotter abgedeckt. Schwach kontaminiertes Erdreich wurde umgepflügt, die Biomasse abgeholzter Wälder vergraben. Das Ziel war die Bindung radioaktiver Stoffe, damit eine Ausbreitung von der Erdoberfläche verhindert werden kann.

Zahlreiche Deponien beherbergen verseuchtes Erdreich, kontaminierte Fahrzeuge, Baumaschinen und Hubschrauber sowie flüssige Betriebsabfälle aus den übrig gebliebenen Kernkraftwerksblöcken.
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Foto : Kontaminierte Fahrzeuge der Feuerwehr bei Pripjat (Quelle)

1,1 Millionen Kubikmeter kontaminierter Abfall wurde auf Grabendeponien geschafft, die zum Teil in Grundwassertiefe angelegt wurden. Nur hatte man die Standorte in der Eile unzureichend dokumentiert, womit bis zum Auffinden verschollener Deponien vor allem Strontium-90 unkontrolliert durch das dort befindliche Grundwasser ausgewaschen wird.

Pripjat ist heute immer noch verlassen und wird von der dortigen Miliz bewacht. Straßen und Gebäude der Geisterstadt sind zum Teil verfallen und werden allmählich durch Gras und Büsche überwuchert.

Als Zeugnis der Helden, die unter Einsatz ihres Lebens eine größere Katastrophe verhinderten, errichtete man ein Ehrendenkmal für die Opfer.

Die Auswirkungen des Tschernobyl-Unfalls sind enorm. Zwar war die Explosion deutlich kleiner als bei einer Atombombe, doch wurde deutlich mehr Strahlung freigesetzt. Es wird davon ausgegangen, dass während des Unglücks mehr als 10 Tonnen Kernbrennstoff in die Atmosphäre gelangt sind. Dabei gehen die Meinungen der Experten auseinander. Einige gehen davon aus, dass nur ein geringer Anteil des gesamten Brennstoffs entfesselt wurde, die anderen, dass nur ein verschwindender Teil zurückgeblieben ist.

Schwer gezeichnet wurde die Region durch die notwendige Umsiedlung von 115.000 Personen unmittelbar nach dem Unfall und weiteren 240.000 Personen drei Jahre nach dem Unfall. In dem Distrikt Khoiniki, der weissrussischen Region Gomel, löste der Unfall eine Migrationswelle aus, so dass er 43 Prozent seiner Bevölkerung verlor. Hauptsächlich junge Menschen und Familien der drei Länder Russland, Belarus und Ukraine haben die schwerkontaminierten Gebiete verlassen während ältere Leute geblieben sind. Im Kerngebiet in unmittelbarer Nähe des Unglücksortes leben derzeit etwa 800 Personen auf gesondert ausgewiesenen Flächen am Stadtrand, in Baracken oder Kasernen. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Armeeangehörige und Wissenschaftler, aber auch um illegal zurückgekehrte Bewohner - vor allem alte Menschen -, die von der dortigen Miliz zum Teil geduldet werden.

Die wirtschaftlichen Folgen sind für die Region naheliegend: Firmen müssen schließen, da die entsprechenden Facharbeiter fehlen. Es mangelt zudem an Medizinern und Lehrern, wodurch Versorgung und Bildung schwerlich gewährleistet sind. Der Belarus und die Ukraine versuchen durch Wirtschaftsprogramme genau diesen negativen Entwicklungen entgegenzuwirken.

Über 200000 km² Landfläche sind durch den Unfall kontaminiert worden. In der Ukraine sind 40 Prozent der Wälder radioaktiv belastet. Im Belarus wurden knapp über 20 Prozent der Wälder und der landwirtschaftlichen Nutzfläche verstrahlt. Fast 7000 km² Waldfläche und fast 8000 km² Agrarfläche wurden absolut stillgelegt. Erst in den Zonen, in denen weniger als 15 Curie gemessen werden, wird noch Landwirtschaft betrieben, allerdings mit geändertem Prozedere. Gezielte Pflugmethoden und spezielles Düngen verringern das Eindringen radioaktiver Nuklide in den Boden. Die Weidezeit wurde eingeschränkt. Unbelastetes Zusatzfutter für die Tiere wird in der Ukraine sogar kostenlos verteilt. Die Landschaftsprodukte werden bei Weiterverkauf strengstens kontrolliert, sind aber nur noch schwer absetzbar. Viele Betriebe mussten aufgrund dessen stillgelegt werden, wobei die Hersteller von Holzprodukten am härtesten betroffen sind. Mit zeitlicher Verzögerung macht sich die Verstrahlung im Holz bemerkbar und zieht von den Wurzeln in das Stammholz hinauf.

Bezüglich des Energiehaushaltes ist der Belarus am gravierendsten betroffen. Zu 80 Prozent ist der Belarus auf die von Nachbarländern eingespeiste Energie angewiesen. Die Energieerzeugung mit Kernenergie hat der Belarus völlig aufgegeben. Er versucht, den Energieverbrauch ständig zu drosseln und arbeitet in Zukunft mit alternativen Energien. Die Ukraine hatte von je her auf fossilie Ressourcen gesetzt und das Standbein der Kernenergie war deshalb noch nicht sehr stark ausgeprägt. 15 Kernkraftanlagen sind in der Ukraine noch in Betrieb: Doch der Druck, auf regenerative Energien umzusteigen, wächst.

Der Umgang der Sowjetunion mit der Katastrophe ist im Nachhinein scharf kritisiert worden. Insbesondere wurde die Langzeitwirkung der Strahlung unterschätzt, so dass es zu Beginn der 90er Jahre eine zweite Evakuierungswelle gab. Direkt nach der Katastrophe wurden Jodpräpärate mit erheblicher Verzögerung verteilt, wodurch die Krebserkrankungen hätten gedrosselt werden können. Zudem hat die Regierung die Bevölkerung unmittelbar nach dem Unfall nur wenig über die tatsächlichen Ausmaße und Folgen informiert, wodurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung nachhaltig geschädigt wurde. Bis 1988 war der Gebrauch von Dosimetern verboten, wodurch eine Gegenkontrolle der staatlichen Informationen unmöglich war. Auf dem Reaktorgelände wurden Soldaten eingesetzt, die nur unverhältnismäßig mit Schutzbekleidung ausgestattet waren. Der Staat muss sich dafür den Vorwurf der Menschenverachtung gefallen lassen.

Ab dem Jahr 1989 wird der Öffentlichkeit das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe bewusst, worauf leider erst die zweite, oben bereits erwähnte Evakuierungswelle folgte. Nach wie vor besteht von offizieller Seite der Trend, den Unfall zu verharmlosen. Der weissrussische Präsident erklärte jüngst die verstrahlten Gebiete sogar für "sauber" und steht mit seiner Aussage im krassen Widerspruch zu einem Oppositionellen, der Weissrussland als "das größte radioaktive Versuchslabor" bezeichnete. Die Verunsicherung der Bevölkerung durch widersprüchliche Informationen und Verharmlosung von offiziellen Stellen ist nicht zu unterschätzen. Experten gehen davon aus, dass beides nicht unerheblich zu psychischen Schäden zahlreicher Bewohner geführt hat. Das zeige sich in der negativen Selbsteinschätzung des Gesundheitszustandes, in der Überzeugung, dass die Lebenserwartung verkürzt sei, im Fehlen von Initiative und in der Abhängigkeit von der staatlichen Unterstützung.

Der kulturelle Impakt ist groß. Die Region verlor seine traditionellen Strukturen, die in den abgelegenen ländlichen Regionen vertreten waren. Die Bevölkerung hat eigene Wege gefunden, um mit dem Unglück fertig zu werden und verarbeitet die Auswirkungen in der Malerei, der Kunst und über das Internet.

Initiativen, die von der EU mitfinanziert werden zielen darauf ab, mit der Bevölkerung pragmatische Strategien für das Alltagsleben in den betroffenen Regionen zu entwickeln. Bezeichnend ist die hohe Anzahl der Erholungsaufenthalte von über 100.000 Kindern der betroffenen Region bei ausländischen Gastfamilien. Manche Kinder werden jährlich mehrere Wochen in Gastfamilien untergebracht. Viele von ihnen erlernen die jeweilige Sprache und halten den Kontakt über Jahre hinweg.

Streitpunkt der Experten sind noch immer die konkreten Gesundheitsfolgen in der betroffenen Region. Während die Atomenergiebehörde IAEA und sechs weitere große UN-Behörden - die Weltgesundheitsorganisation (WHO), UNDP (United Nations Development Programme), FAO (Food and Agriculture Organization), UNEP (United Nations Environment Programme), UN-OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs), und UNSCEAR (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation) - in einer Studie die bisherige Einstufung des Unfalls tendenziell als harmloser einstuft, sprechen andere Einrichtungen wie das "Umweltinstitut München" oder die "Vereinigung von Ärzten für die Verhinderung eines Atomkrieges" von gänzlich anderen Zahlen. Nach der UN-Studie konnten 4000 Todesopfer mit dem Kernkraftwerksunfall in Zusammenhang gebracht werden. Ukrainische Behörden sprachen bereits im Jahr 2002 von bis zu 15.000 Todesopfern. Laut UN-Studie besteht insbesondere die Gefahr von Armut und Geisteskrankheiten aufgrund des "Lebensstils" der Bewohner in den betroffenen Regionen - weniger eklatant sei hingegen die Gefahr der überdosierten Bestrahlung. Sicher ist: Die Anzahl der Opfer von Schilddrüsenkrebs stieg bei Kindern besonders in den Jahren 1990 bis 1995 um das 30-fache an und fiel danach allmählich. Die Heilungschancen im Kindesalter sind groß. Unter den Jugendlichen nahm die Zahl der Erkrankungen in den 90-er Jahren stetig zu. Stark betroffen sind Erwachsene, die zu der Zeit des Unfalls zwischen Kindesalter oder Adoleszenz waren. Die Lebenserwartung ist deutlich gesunken. In der Region Gomel überholte die Sterberate die Geburtenrate - die Lebenserwartung sank um fünf Jahre auf knapp über 67 Jahre.

In besonderem Maße betroffen sind die geschätzten 800.000 Aufräumarbeiter (sogenannte "Liquiditoren", allerdings wurden nur 200.000 offiziell registriert), die unmittelbar nach dem Unfall bis 1987 und in der Folgezeit der Strahlung stark ausgesetzt wurden und leider nicht ausreichend geschützt waren. Der enorme Zeitdruck dürfte dazu geführt haben, dass die Arbeitssicherheit an vielen Stellen missachtet wurde. Die Trümmer wurden zum Teil mit der Hand beseitigt und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass diese Menschen unter den Folgen bis heute leiden. 300.000 Menschen erhielten eine Strahlendosis von mehr als 500 Millisievert. Das ist so viel, wie ein Astronaut außerhalb des Van-Allen-Gürtels - dem Schutzschild unserer Erde vor kosmischer Strahlung - innerhalb eines halben Jahres ausgesetzt wäre.

Über das Risiko wurden diese freiwilligen oder auch verpflichteten Helfer nicht informiert. Dutzende der Liquiditoren starben in den ersten Wochen nach dem Unfall, denn zu den ersten Aufgaben gehörte die Errichtung des Beton-Sarkophags über dem explodierten Reaktor. Zahlreiche Helfer waren nur wenige Jahre nach ihrem Einsatz Vollinvalide. In der öffentlichen Diskussion wird davon ausgegangen, dass 100.000 Liquiditoren schwerwiegende Spätfolgen erlitten haben. Offiziellen Angaben zufolge starben ungefähr 25.000 Menschen durch die Strahlendosen, denen sie bei den Aufräumarbeiten ausgesetzt waren, doch der mangelnde Einsatz von Dosimetern lässt Zweifel an der Schätzung aufkommen. Inoffizielle Quellen schätzen die Anzahl der Opfer erheblich höher ein, zudem existieren keine einheitlichen Erhebungsmethoden, nach denen der Grad der Körperschädigung durch Radioaktivität definiert ist.

Weit entfernt von der Region ist eine ansteigende Zahl von Fehlbildungen beobachtet worden. Neun Monate nach dem Unfall hatte sich die Anzahl der Trisomie-21-Fälle (Down-Syndrom) in Deutschland mindestens verdoppelt. Stärker betroffen war der südliche Raum Deutschlands, in dem entsprechend eine höhere Anzahl von Fehlbildungen festgestellt wurde. In einer zweiten Analyse wurden die Befunde aus Januar 1987 bestätigt: Das Ansteigen der Fehlbildungen konnte eindeutig auf den Unfall zurückgeführt werden. Eine Korrelation von Fehlbildungshäufigkeit und der Bodenkontamination durch Cäsium konnte ebenfalls in Bayern nachgewiesen werden.

Die "Internationale Vereinigung von Ärzten zur Verhütung eines Atomkrieges" hält in ihrer Studie fest, dass der Unfall circa 10.000 ernsthafte Fehlbildungen und 5.000 Todesfälle von Säuglingen in Europa zur Folge haben würde. Untersuchungen des Umweltministeriums in München haben ebenfalls gezeigt, dass die Säuglingssterblichkeit zum Zeitpunkt des Unfalls stark angestiegen ist. In Polen wirkte sich der Unfall auf die Säuglingssterblichkeit dreimal höher aus als im Gebiet der damaligen BRD.

Die Langzeitwirkung des Unfalls ist keinesfalls zu unterschätzen. Die freigesetzten, radioaktiven Isotope Jod-131 und Cäsium-137 zerfallen unter Freisetzung von Beta- und Gammastrahlung. Jod-131 hat eine Halbwertszeit von knapp acht Tagen und lagert sich in der Schilddrüse an. Cäsium-137 hat eine Halbwertszeit von 30,2 Jahren und sammelt sich beim Menschen überwiegend in den Knochen an. Ein weiteres Produkt entsteht in einem Kernreaktor unter Elektronenbeschuss von Uran: Pu-241 (Plutonium), ein Betastrahler mit einer Halbwertszeit von 14,6 Jahren. Plutonium-241 zerfällt weiter zu Am-241 (Americium), welches ein gefährlicher Alphastrahler mit einer Halbwertszeit von 432,6 Jahren ist. Heute ist die Alphastrahlung in Weissrussland im Vergleich zu den Jahren vor dem Unfall um ein Vielfaches gestiegen. Die durch diese Zerfallskette freigesetzte Alpha-Strahlung wird bis in das Jahr 2300 die doppelte Intensität im Vergleich zum Zeitpunkt unmittelbar nach dem Unfall erreicht haben!


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Bilderverzeichnis:

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Literaturquellen:

Pschyrembel (Klinisches Wörterbuch), 257. Auflage
Küster-Thiel, Rechentafeln für die chemische Analytik, 103. Auflage

Internetquellen und -links:

Wiener Umweltanwaltschaft: http://www.wien.gv.at/wua/atom/akw/t-gesundheit.htm
Atomschutzbeauftragter der Stadt Wien: http://www.wien.gv.at/wua/atom/akw/pripjat.htm
Umweltinstitut München e.V.: http://www.umweltinstitut.org/frames/all/m228.htm
Discovery Channel: http://www.discovery.de/zero_hour/tschernobyl/Tschernobyl.shtml
3sat Fernsehen: http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/nano/cstuecke/17321/index.html
Auszug aus der Broschüre "TSCHERNOBYL - DER REAKTORUNFALL":
http://www.tschernobylhilfe.ffb.org/timetab.htm
Chronik einer technischen und menschlichen Katastrophe: http://www.benoroe.de/tschernobyl
Chernobyl.info: http://www.chernobyl.info/index.php
http://www.i-st.net/~buendnis/ts20/supergau1.htm
Tschernobyl-Initiative in der Propstei Schöppenstedt e.V.:
http://tschernobyl-initiative.welcomes-you.com/kata.htm
http://www.belarusnews.de/tschernobyl1182-.html
Chernobyl: http://hyperphysics.phy-astr.gsu.edu/hbase/nucene/cherno.html
Arte Archimède: http://archives.arte-tv.com/hebdo/archimed/20010522/dtext/sujet4.html
Aufbau und Funktionsprinzip von AKWs: http://www.cgg.at/chemie/schuelerdaten_alt/referate_alt/12.htm
Kernenergie-Wissen: http://www.kernenergie-wissen.de/index.html
Reactor Physics: http://www.neutron.kth.se/

Pressemitteilung der IAEA: http://www.iaea.org/NewsCenter/Focus/Chernobyl/pdfs/French_press_release.pdf
Deusche Übersetzung der IAEO-Studie: url=http://www.energie-fakten.de/pdf/pm-tschernobyl-deutsch.pdf
 

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