Majak - Leuchtfeuer des nuklearen Wahnsinns

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Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gaben seinerzeit das Startsignal für das sowjetische Atomprogramm und damit für den Bau der größten Atomanlage der Welt: Majak - das übersetzt "Leuchtturm" bedeutet - steht für mehr als ein halbes Jahrhundert atomaren Wahnsinns. Und auch nachdem die Anlage im Jahre 2003 die so genannte "Produktion" eingestellt hat, scheint es eine Fortsetzung der Geschichte zu geben, denn man hat eine neue gewinnbringende Verwendung für das ca. 1.000km² große verseuchte Areal gefunden: Endlager für internationalen nuklearen Abfall.

Das Chemiekombinat Majak - lange Zeit Hauptproduktionsstätte für atomwaffenfähiges Plutonium in der Sowjetunion - liegt zwischen den Städten Tscheljabinsk und Jekaterinburg, am Ufer des Kyzyltash-Sees auf der asiatischen Seite des Ural, ca. 1.700 Kilometer östlich von Moskau. Etwa 17.000 Menschen arbeiten auf dem riesigen Areal, auf dem sich eine Wiederaufarbeitungsanlage, sieben Reaktoren und ein Lager für radioaktive Abfälle befinden.

Die Arbeiter und deren Familien leben in einer geschlossenen Stadt: Tscheljabinsk-40, welche jetzt Ozyorsk heißt und ca. 85.000 Einwohner beherbergt.
Diese "geschlossenen Städte" - es gab in der ehemaligen Sowjetunion mehrere - waren Städte oder Gebiete der Rüstungsindustrie, in denen strengste Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen galten. Sie waren auf keiner Karte verzeichnet und bekamen ihren Namen meist von der nächstgelegenen großen Stadt, ergänzt mit einer Zahl, welche die ungefähre Entfernung zu dieser angab. Jeder der Bewohner braucht einen speziellen Ausweis, um die Stadt betreten oder verlassen zu dürfen. Und noch heute gleicht Ozyorsk einer Festung: Meterhohe Zäune, schwere Stahltore, strengste Bewachung.

So sehr die sowjetische Führung um die Sicherheit und Geheimhaltung der Anlage bemüht war, so wenig gab sie auf Sicherheitsvorschriften im Umgang mit radioaktivem Material. Während der Betriebszeit der Anlage wurden große Mengen an Radioaktivität durch Unfälle, aber durchaus auch gezielt freigesetzt.

Zwischen 1949 und 1951 wurde der gesamte anfallende Abfall an flüssigen radioaktiven Stoffen der Plutoniumproduktion in den nahe gelegenen Fluss Tetscha, wenige Kilometer von seiner Quelle, eingeleitet. Das Kühlwasser für die Reaktoren wurde aus dem Fluss direkt durch den Reaktorkern geleitet und danach hochkontaminiert in den Fluss zurück gegeben, obwohl er Trinkwasserquelle für 120.000 Bewohner der Region ist.
Die Bewohner der Dörfer an den Flussufern waren hohen Strahlenbelastungen ausgesetzt, wurden jedoch nicht über die Gefahren durch den Gebrauch des Wassers aufgeklärt.
Nachdem 1951 der sowjetischen Regierung in einem Bericht das Ausmaß der Verstrahlung mitgeteilt wurde, verringerte man die Menge der eingeleiteten Abfälle. Mittel- und schwach-radioaktive Stoffe wurden dennoch bis 1956 noch auf diese Weise beseitigt. Es wird geschätzt, dass allein auf diesem Weg ca. 2,7 Millionen Curie Betastrahlende Materie in den Fluss gelangte. Davon lagerten sich ca. 99 Prozent auf den ersten 35 km flussabwärts ab. Mit der Evakuierung der ersten Dörfer wurde erst Jahre später begonnen. Es wurden dabei bis 1960 ca. 7.500 Menschen aus 22 Dörfern umgesiedelt. Doch auf dem kontaminierten Gebiet spielen noch heute Kinder an den Ufern des Flusses.

29. September 1957: Die Kyschtym Katastrophe

In der Wiederaufbereitungsanlage, in der Plutonium für den Bau von Atomwaffen gewonnen wurde, kommt es zu einem der schwersten Nuklearunfälle der Geschichte.
Dort wurden Brennstäbe in Salpetersäure gelöst und so das darin enthaltene Plutonium auf chemischem Wege extrahiert.
Dabei verblieb eine Flüssigkeit, in der eine ganze Reihe von langlebigen Radionukliden in sehr hohen Konzentrationen gelöst waren, welche in großen Tanks mit ca. 250 Kubikmeter zwischengelagert wurden.
Die Tanks mussten mit Hilfe von Wasserleitungen, welche sich im Inneren eines jeden Tanks entlang zogen, gekühlt werden, da beim radioaktiven Zerfall der Nuklide eine enorme Wärme entstand und sich die Lösung sehr stark erhitzte.
1956 wurde innerhalb eines der Tanks dieses Leitungssystem undicht und deshalb abgesperrt.

Im folgenden Jahr bemühte man sich eher halbherzig darum, Möglichkeiten für Reparaturmaßnahmen zu finden. So begannen durch die Hitze die flüssigen Abfälle zu trocknen und es sammelten sich Acetate sowie hochexplosive Nitratsalze - ähnlich jenen, die auch in Sprengstoffen verwendet werden - an der inneren Wandung des Tanks. Vermutlich durch einen Funken, den ein Kontrollgerät im Tank erzeugte, wurden dann im September 1957 die Salze zur Explosion gebracht.

Die Detonation war so gewaltig, dass Trümmerstücke noch in über zwei Kilometer Entfernung gefunden wurden. Experten vergleichen sie mit der Kraft von 70 bis 100 Tonnen TNT. Dabei wurden große Mengen an radioaktiven Material, zumeist Strontium-90 und Caesium-137 - ganz ähnlich wie in Tschernobyl - in die Umwelt freigesetzt.
Zeugen berichteten, dass noch hunderte Kilometer entfernt ein leuchtender Schein zu sehen war. Sowjetische Zeitungen erklärten dies mit Wetterleuchten und Nordlichtern.

Zum Glück ging der größte Teil der radioaktiven Substanzen nach Schätzungen in "relativer" Umgebung der Anlage nieder und nur ein kleinerer Teil wurde mit dem Wind in nördliche und nordöstliche Richtung getrieben, so dass der Fallout auf den Ural begrenzt blieb.
Ca. 18 Millionen Curie verseuchten den Erdboden der Umgebung, ca. 2 Millionen Curie wurden durch eine radioaktive Wolke auf eine Fläche von über 15.000 Quadratkilometern verteilt. Tausende Menschen aus der Umgebung mussten unfreiwillig an den Entseuchungsarbeiten teilnehmen - unzählige Menschen starben dabei.

Ca. 10 000 Einwohner mussten insgesamt evakuiert und umgesiedelt werden. Dieses geschah jedoch teilweise erst eineinhalb Jahre nach dem Unglück.

Durch die örtliche Begrenzung des Fallouts schlugen Messgeräte in Europa nicht Alarm und so erfuhr man im Westen erst viele Jahre später, was nahe der Stadt Kyshtym passierte. Der eiserne Vorhang und der Kalte Krieg sorgten für strikte Geheimhaltung. Erst 1976 berichtete ein aus der Sowjetunion emigrierter Wissenschaftler über die Katastrophe. Jedoch hielten viele seine sehr dramatischen Schilderungen des Vorfalls für Phantasterei.

Die Geheimdienste jedoch haben mit höchster Wahrscheinlichkeit schon lange vorher Kenntnis von der Katastrophe gehabt, denn um die betroffenen Region von ca. 1000 km² wurde kurz nach dem Unglück ein gewaltiges System aus Kanälen und Dämmen errichtet, welche die Ausbreitung der kontaminierten Stoffe eindämmen sollte. Dies ist auf Bildern von Spionagesatelliten deutlich zu erkennen. Und dieses Gebiet wurde im Hinblick darauf, dass es eines der wichtigsten Industriezentren der UdSSR im Bereich der Atomkraft war, ziemlich sicher sorgfälltig vom Westen aus beobachtet.

1967 ereignete sich eine weitere Katastrophe, deren Auswirkungen uns vermutlich noch bevorstehen: Die Austrocknung des Sees Karatschai.

Seit 1951 wurden in den See Karatschai hochradioaktiver flüssiger Müll eingeleitet. Durch eine Dürreperiode trocknete der See 1967 teilweise aus. Bereiche des kontaminierten Seebodens wurden freigelegt und mit bis zu 600 Curie beladener Staub, welcher hauptsächlich die Spaltprodukte Strontium-90 und Cäsium-137 enthielt, wurde durch Wind auf eine Fläche von 1.800 bis 2.700 Quadratkilometern verteilt.
Als Gegenmaßnahme wurden weitere Teile des Sees zugeschüttet. Doch die Verklappung der Abfälle wurde nicht eingestellt. In den 80er Jahren begann man mit dem Bau schneller Brüter, in denen das radioaktive Wasser mit Hilfe von Ionentauschern gereinigt werden soll. Jedoch fehlten die finanziellen Mittel, um die Reaktoren fertig zu stellen. So hat sich unter dem heute noch 13 Hektar großen Karatschai-See im Laufe der Jahrzehnte eine "Linse" mit radioaktiven Salzen gebildet. Diese bewegt sich nun mit ca. 80 Metern jährlich in Richtung regionaler Grundwasserströme. Durch die Flüsse Ob und Tetscha könnten die Reste der strahlenden Abfälle dann bis ins Eismeer gelangen. Die Folgen wären nicht absehbar.

Offiziell informierte die Sowjetunion erst 32 Jahre später - im Juli 1989 - durch das nach der Tschernobyl-Katastrophe entstandene Ministerium für Atomenergie, die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) über die Vorgänge in Majak. Man kann wohl davon ausgehen, dass dies nur ein Teil der Wahrheit ist.

Der offizielle Bericht des Ministeriums für Atomenergie beziffert zwei Millionen Curie ausgetretener radioaktiver Substanzen. Unabhängige Wissenschaftler dagegen halten 120 Millionen Curie an radioaktiven Substanzen allein in Hinblick auf den Inhalt des explodierten Tanks für angemessener. In Tschernobyl z.B. gelangten dagegen "nur" ca. 20 Millionen Curie in die Umwelt.
Ebenso wird im Bericht erwähnt, dass auch 30 Jahre nach der Kyschtym Katastrophe keinerlei erhöhte Raten an Krebs, Leukämie, genetischen Veränderungen oder anderen Krankheiten unter den Betroffenen aufgetreten seien, was in Anbetracht dessen, dass viele dieser Menschen erst anderthalb Jahre nach der Katastrophe umgesiedelt wurden, höchst unwahrscheinlich klingt.

Genauere Informationen könnte jedoch das Projekt "Southern Urals Radiation Risk Research (SOUL)" bringen:

2005 begannen Wissenschaftler aus Deutschland, England, Griechenland, Italien, den Niederlanden, Schweden und Russland beim GSF - Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit in Neuherberg bei München mit den Vorarbeiten des vierjährigen Projektes. Mit diesem Projekt, das von der Europäischen Kommission mit 6,8 Millionen Euro gefördert wird, sollen neue Erkenntnisse zum Gesundheitsrisiko durch andauernde Strahlenexpositionen gewonnen werden, welche man bis jetzt nur aus den Daten der Atombombenüberlebenden von Hiroshima und Nagasaki erhielt.
Untersucht werden 20.000 Arbeiter von Mayak. Erste Ergebnisse zeigten bei ihnen erhöhte Mortalitätsraten durch soliden Krebs und Leukämien, insbesondere in Leber, Lunge und Knochen. Weiterhin werden auch 29.000 Anwohner des Flusses Techa innerhalb dieses Projektes untersucht, deren Eltern strahlenexponiert waren oder die im Mutterleib bzw. während ihrer Kindheit exponiert wurden.

Mit dem 1. Januar 2003 wurde der Betrieb in Majak eingestellt. Ein Sprecher der russischen Atomaufsichtsbehörde Gosatomnadsor teilte mit: "Majak habe aufgrund von Verstößen gegen Naturschutzgesetze keine neue Lizenz zur Einleitung radioaktiver Abfälle in die Flüsse und Seen der Umgebung erhalten." Aus diesem Grund sei, nach Angaben des Unternehmens, die Wiederaufarbeitungsanlage arbeitsunfähig. Das Naturschutzgesetze scheinbar überhaupt Verklappung radioaktiven Mülls erlauben, klingt ohnehin nach einem schlechten Scherz.

Doch dahinter verbirgt sich ein politischer Schachzug, denn das Atomministerium selbst hat die Aufkündigung der Majak-Lizenz sanktioniert: Die offizielle Politik Russlands unterstützt die Wiederaufbereitung und den Plutoniumgewinn. Doch in Zeiten der Abrüstung ist Plutonium nicht mehr so gefragt. Durch die Lagerung von Atommüll aus dem Ausland - deren Importe sind seit 2002 legal - verspricht sich die russische Atomlobby hohe Gewinne. Doch die USA, welche etwa 80 Prozent aller atomaren Abfälle auf der Welt kontrollieren, verweigern deren Verkauf nach Russland, solange dort Plutonium daraus gewonnen wird. Somit scheint der Weg frei für die Zukunft des nuklearen Wahnsinns in Majak ...
 
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