"Emmanuel Goldstein" läßt grüßen

Vindaloo

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Ein Beitrag von dem User phoenix321 aus dem Telepolis-Forum. Ich finde er trifft den Nagel bei vielen "Verschwörungstheorien" auf den Kopf.
Man sollte natürlich Orwells 1984 und Matrix kennen :wink:
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Um (leider zum 100'000sten Mal) G. Orwell ins Spiel zu bringen...

Für mich sieht das alles nach totalem Verwirrspiel aus. Die sicherste
Methode, eine Verschwörung geheim zu halten wäre es tatsächlich,
wilde und total übertriebene Paranoia zu streuen. Denn wenn man
irgendwie *alles* mit der Verschwörung assoziiert oder unter deren
Kontrolle vermutet, entwertet man den ganzen Gedanken an irgendeine
Verschwörung.

Das ist die klassische Argumentationstaktik, die auch unser
vielgerühmter M. Friedman so gern angewandt hatte: eine Meinung
dadurch diskreditieren, daß man sie hoffnungslos aufbläst und an
diesem aufgeblasenen Bild mit einem Gegenbeispiel Lächerlichkeit
erzeugt.

Wenn ich mir also diese ganzen Verschwörungsseiten anschaue, kommt
mir immer ein (zugegeben unendlich paranoider) Gedanke: daß jede
halbwegs ernstgemeinte Verschwörung diese Informationen selbst
verstreut, gezielt Verrückte und Spinner zu diesem Zweck gewähren
läßt oder förder, um ein absichtlich übertriebenes Bild zu erzeugen.
Ein interessierte "Normalbürger" sieht dann den Wald vor lauter
Bäumen nicht mehr, die meisten Webseiten und Bücher zeugen von soviel
Spinnerei und Fantasie, daß kein vernünftiger Mensch auch nur ein
kleines bißchen davon glauben wird.

Eine perfekte Verschwörung existiert nicht, die absolute Macht hat
dieses Konsortium noch nicht inne und wird es durch unvermeidliche
Streitigkeiten innerhalb oder das menschliche Gewissen ihrer Täter
auch nie haben. Also hinterläßt man unweigerlich Spuren in der
"realen", der öffentlichen Welt, die Probleme bereiten könnten.

Man nehme nur das Beispiel des WTC-Anschlags: es gab einige
Ungereimtheiten, die nicht so recht erklärt werden konnten. Einem
informierten Menschen muß klar sein, daß irgend etwas an der
offiziellen Version nicht stimmen kann. Spannt man da jetzt den Bogen
bis zu einer 1778 gegründeten Geheimgesellschaft, wird die Mehrzahl
der informierten Menschen sich kurz an die Stirn tippen und sich
abwenden.

Groteske Übertreibung seitens der Paranoiker erzeugt bei der Mehrheit
mehr Glauben an die offizielle Version als es alle staatlichen
Berichte und Untersuchungskommissionen je könnten. Die erzeugte
Verwirrung steigert den blinden Glauben an die fürsorgliche
Autorität.

Da eine Verschwörung wohl nicht vollständig wäre, wenn man Namen von
Organisationen und Mitgliedern benennen könnte, muß man gar vermuten,
daß die "paranoide" Version der Weltgeschichte ebenso erlogen ist wie
die offiziellen Ansichten.

Um den Wahnsinn komplett zu machen, könnte man hier Parallelen zu den
"Rebellen" aus 1984 von G. Orwell oder auch zum "Zion" der
"Matrix"-Filme ziehen: Die Mehrheit der Menschen akzeptiert die
"offizielle" Version, die ungläubige Minderheit fängt man mit einer
Gegenwahrheit, die wie ein Ausweg erscheint, aber kontrollierbar weil
eingeplant ist.

So wie der mysteriöse Emmanuel Goldstein in 1984 nur eine Ablenkung,
ein Köder für die Abtrünnigen ist, könnte es gut sein, daß diese
Geschichte um eine 300 Jahre alte Geheimgesellschaft nur ein
Mummenschanz ist, der nur halbwegs auf die Fakten paßt.

Interessierte Menschen sind durch die Existenz dieser Ablenkung
hervorragend eingedämmt. Versucht man, sich in das Thema
hineinzulesen, landet man unweigerlich bei Geschichten der
Vergangenheit, geschrieben in Prosa, ohne jede Quellenangabe zu
einzelnen Thesen. Ist man nach den unglaublichen Fakten noch immer
interessiert, versucht man vielleicht noch die Thesen mit Quellen zu
bestätigen und spätestens da hört entweder die Geduld oder die
Objektivität auf. Der Verstand beschäftigt sich dann maximal mit
Beweis oder Widerlegung einzelner Fakten, möglichst von Ereignissen
und Personen von anno dunnemals. Angesichts der Fülle von
Behauptungen sind am Ende nur zwei Ausgänge möglich, da der Leser
irgendwann aufgibt: entweder er spart sich die Denkarbeit und erklärt
Verschwörungen für sinnlosen Hokuspokus *oder* er hört auf, nach
Quellen zu suchen und akzeptiert belegfreien Prosatext der anderen
Paranoiker. Entscheidung zwischen Großem Bruder oder Goldstein,
zwischen Matrix oder Zion - der Mensch bleibt auch als Zweifler
kontrollierbar.

Hoffe ich habe hiermit die Meta-Verschwörungstheorie etwas mehr in
den Mittelpunkt gerückt.
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Wie ich finde, ein gelungener Text was die Skepsis gegenüber allen Verschwörungstheorien und "unglaublichen" Themen angeht.
Willst Du etwas wirklich geheim halten, übernimm die Kontrolle über die extreme Gegenposition. Es gibt eine geheime Weltregierung?
Verbinde sie mit Aliens von Sirius und verknüpfe sie mit Mittelalterbünden und Zahlenmystik. Es gibt Kritiker an herrschenden Verhältnissen?
Setzte Provokateure ein, die mit ihrem Extremismus alle Positionen diskreditieren.
Das ist nicht nur perfide, ich glaube, ich würde es genauso machen wenn ich etwas wirklich übles zu verbergen hätte.
 
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