Der Utopismus als politische Ideologie des 21. Jahrhunderts

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Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, die Utopie bzw. den Utopismus als eine ernstzunehmende politische Ideologie für das 21. Jahrhundert zu etablieren. Nicht selten haftet im Denken und Sprachgebrauch des Menschen der Utopie noch der Hauch des Schwärmerischen und nicht Realisierbaren an, dennoch wagen wir den Versuch, nachzuweisen, dass viele heute als selbstverständlich angesehene Gesellschaftsentwürfe von ihren einst utopischen Lösungsansätzen zur empirischen Arbeit übergangen sind und so unbemerkt ein fester Bestandteil unseres Denkens und Handelns geworden sind.
Mehr noch, wir werden versuchen nachzuweisen, dass der Utopismus die Triebfeder jeder gesellschaftlichen sowie kosmologischen Exploration ist und schon immer war, und dass die Utopie durchaus die etablierten politischen Doktrien,mit ihren ungleichzeitigen Forderungen an die Empirie, vom Sockel stoßen kann.

Um für weitere Betrachtungen eine Vorstellung zu haben, müssen wir eine klare Klassifikation und Abgrenzung der Utopie vornehmen. Demnach ist eine Utopie nicht eben nur eine Ausführung, ein Entwurf der bestehende gesellschaftliche Verhältnisse einfach durch eine bessere Alternative (Eutopie) ersetzt, sondern auch gerade der negative Gegenentwurf (Dystopie) kann durch seine bestehende dunkle Voraussicht die aktuellen Bedingungen in die kritische Pflicht nehmen.

Interessant ist hierbei die Entwicklung und auch Vielfalt des utopischen Entwurfes, von der Johannes Offenbarung des neuen Testamentes über die Prophezeiungen des Nostradamus. Hält man sich an die Richtlinie für die Klassifizierung einer Utopie, so kann man ohne Zweifel auch die weltbekannten Prophezeiungen dieses Sehers und auch vieler anderer seiner Zunft ruhig in die Kategorie Utopie bzw. Dystopie legen. Der Unterschied mag im ersten Moment zu groß sein als dass man diese Klassifizierung wirklich nachvollziehen könnte, aber sie variiert im Grunde genommen nur an einem geringen Parameter. Nämlich dem, dass im Gegensatz zu den klassischen Utopien dessen Ereignishorizont als empirisch zu bezeichnen ist, der Ereignishorizont einer Prophezeiung dagegen eher als historisch gilt. Der Seinszustand einer zeitlich/räumlichen Ordnung wird also nicht durch die Errungenschaften seiner Soziostase klassifiziert, sondern durch die Kombinatorik eben dieser Errungenschaften die zu einem bestimmten Ereignishorizont erst führen. Die utopische Prognostik, das eines Tages der Mensch den Himmel für sich erobern möchte und mit Fluggeräten bevölkert um die Distanz zwischen weit auseinanderliegenden Orten zu überbrücken, kann demnach ebenso ein bestimmtes Ereignis, in dem mit diesen Geräten andere Länder angegriffen und Städte vernichtet werden, implizieren.

Nehmen wir einen anderen Betrachtungsgegenstand unserer Überlegung, den Utopisten selbst. Egal ob Nostradamus, ob Thomas Morus mit seiner "Utopia", Francis Bacon mit "Nova Atlantis",oder Tomasso Campanellas Sonnenstaat - sie alle standen vorwiegend im Dienste entweder des Staates/eines Königs oder auch der Kirche; Somit stellte ihre Prognostik eine Verlängerung herrschaftlicher Gewalt dar. Konnten ihre Visionen und Entwürfe überhaupt kritisch die bestehenden Verhältnisse reflektieren ?

Im 19 Jahrhundert verlor die Utopie zeitweise ihre stilweisende Form der Erzählung und tauschte sie gegen die Sozialutopien der Industriellen Revolution aus. Robert Owen "Soziale Harmonie und Charles Fourier "Leidenschaftliche Anziehung" sind klassische Utopien des vor- und frühkapitalistischen Zeitalters. Owens und Fouriers Sozialentwürfe waren im Gegensatz zu den klassischen Utopien eher theoretische Abhandlungen, als dass durch Erlebnisberichterstattung und Dialogform eine Unmittelbarkeit des utopischen Entwurfes entstanden wäre.

Dann kam Jules Verne, der Vater der modernen Science Fiction. Er brachte mit seinen Erzählungen nicht nur wieder die Unmittelbarkeit ins Spiel. Seine Prognostik war kühner als alles andere vor ihm, weil er sie nicht nur im Raum verlagerte sondern eben auch erstmals in der Zeit.
Im Laufe der Jahrhunderte hat sich so aber auch nicht nur das Bild der Utopie und ihre Ausführungsform verändert, sondern auch der Autor an sich hat sich vom Staatsdiener zum Gesellschaftsreformer bis hin zum künstlerischen Literaten gewandelt. Diese Linie lässt sich weiter von Jules Verne über H.G.Wells bis in die Neuzeit, mit ihren dunklen Dystopien eines Orwell (1984) und Huxley (Brave New World), verfolgen.

Das 20. Jahrhundert mit seiner technischen Exploration hat auch die exemplarische Ausführungsform der Utopie bis dato, also das Buch, sich weiter entwickeln lassen. Mit der Erfindung des Kinomatographen bekamen auch so die visuellen Vorstellungen der Menschen eine neue Ausdrucksebene. Die Matrix Triologie die in den vergangenen Jahren die Kinos weltweit eroberte und darin eine durch Maschinen dominierte Welt postuliert, ist ein klassisches Beispiel einer nur auf dieser neuen technisch, enovierten Ebene entstandenen Utopie.
Die Auseinandersetzung mit der Zukunft und deren exemplarischen Möglichkeiten zur Ausgestaltung waren nie so ausgereift und vielfaltig wie vielleicht heute. Die neuen technologischen Möglichkeiten wie sie die moderne Informationsgesellschaft heute entwickelt und so auch durch das Internet die Menschen und ihre alltäglichen Gedanken und Empfindungen, ortsungebunden miteinander vernetzt, hat zu einer völlig neuen Form der neuzeitlichen Utopie geführt.

War noch bis zur Mitte bzw. bis zum Ende des letzten Jahrhunderts die Individualutopie, die auf den Gedanken eines einzelnen Autoren sich berief, als die gängige Ausdrucksform anzusehen, so scheint sich heute der Utopismus in Form seiner sozialen Praxis und als Triebkraft einer sozialen Bewegung neu zu definieren und zu etablieren. Utopische Entwürfe werden so nicht mehr literarisch festgelegt sondern textfragmentarisch oder auch mündlich zusamengefasst. Das Internet mit seinen unendlichen und meist undurchsichtigen Forengemeinschaften bildet so nach der Individualutopie des einzelnen Autoren einen neuen Utopietypus aus - die Gruppenutopie.

Aber auch schon ohne das Internet und seine vielfältigen Formen des Ausdrucks und Austausches gab es ähnliche quasi-literarische Utopien. Thomas Müntzers Schriften und auch der auf losem Schriftwerk basierende Gedanken der Manson Gruppe Mitte der sechziger Jahre, als auch die eutopischen Vorstellungen der Zeugen Jehovas, so unterschiedlich sie auch alle letzlich sein mögen, sind Ergebnisse eben dieses Prozesses, in dem sich Schriftfragmente mit dem mündlichen Diskurs einer mehr oder minder homogenen Gruppe zu einem bestimmten zukünftigen Bild vermischt.

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Internetforen sind spezielle virtuelle Räume für sich, die gemäß dem Foucoultschen Schema der Heterotopie einen eigenen abgeschlossenen Raum mit ihrem eigenem Ordnungsprinzip darstellen müssten. Aber ganz so einfach ist es nun doch nicht mit dieser Definition, denn ihre Struktur wendet sich einerseits gegen die angenommene Unordnung der um sie herum bestehenden Umwelt, bildet aber gleichzeitig ein verkleinertes Abbild der Gesellschaft. Zieht man Foucault´s Beispiele für Heterotopien heran wie Friedhöfe, Altersheime, Museen, Bibliotheken, Kolonien, Gefängnisse und auch psychatrische Anstalten und stellt sich gleichzeitig vor in einem dieser Ordnungsräume aufgewachsen zu sein und leben zu müssen, so stellt man schnell fest, dass die außen existierende Realität als ein idealer, entgegenstrebenswerter Raum anzusehen ist.

Das Problem ist nur, dass dieser Raum keinesweg als perfekt und alleinig erstrebenswert anzusehen ist. Diese quasie-heterotopischen Gruppen, wie eben Foren und andere Gemeinschaften streben ersatzweise nun ähnlichen idealisierten Entwürfe entgegen. Das Paradoxe hierbei ist nun im Gegensatz zu unseren klassischen Utopieentwürfen, deren Ungleichzeitigkeit also raumzeitliche Nichtexistenz immer auch wahrgenommen wurde, dass nun dieser idealisierte, entgegengestrebte Ort von vornherein als absolut existent angesehen wird.
Innerhalb dieser Gruppen gibt es keinerlei Diskussion darüber ob diese Räume existieren, sondern nur darüber wann man sie betreten wird.

Exemplarisch hierfür einige aktuelle Beispiele:

Die Hohle Erde Theorie postuliert eine Welt in der Welt. Demnach soll es eine komplett abgeschlossene Zivilisation im Inneren der Erde geben. Ohne jetzt detailiert auf die einzelnen Aspekte dieser Theorie einzugehen, so ist doch festzustellen, dass sie von ihrer Ausdifferenzierung ziemlich perfekt ins Schema passt. Sie basiert auf einem ausreichenden Schriftfragment - unter anderem diverse Reise- und Erlebnisberichte von dort -sowie auf ihrem inneren Ordnungsschema und ist damit vor einem spirituellen Hintergrund idealisierend genug, um als Utopie verstanden zu werden. Die Hohle-Welt-Theorie kann also im klassischem Sinne als Utopie verstanden werden. Sie ist ein Gutort (Eutopie) und nicht in unserem derzeitigen Raum-Zeit-Schema angesiedelt. Genauso verhält es sich mit unserem zweiten Beispiel, der sogenannten Komissarischen Reichsregierung - kurz KRR. Sie ist ähnlich wie das Neuschwabenland, ein Nebenaspekt der Hohlen Welt Theorie und eine eher romantisierende Vorstellung im Weltbild einiger "Quasienationalisten".
Nancy Lieders Zeta-Talk -Gemeinde, die für das Jahr 2002 das Kommen des 10. Planeten Nibiru postulierte und so auch erdumwälzende Ereignisse vorhersagte, übertrug ihre utopischen Vorstellungen auf das zukünftige Leben der durch die Niburianer evakuierten Menschheit, eben auf diesen Planeten. Die Geschehnisse traten nicht ein, so daß Nancy Lieder gemäß der utopischen Doktrien und ihrer Prinzipien, vom konsequenten Leugnen der um sie herum weiter existierenden Realität und der Auslöschung jeglichen Zweifels, weiterhin ihre Beweise präsentiert. Ein wöchentliches Kaleidoskop an Fotos aus aller Welt von der Anwesenheit eines weiteren Planeten in der Nähe der Sonne.
Wie schon gesagt: hier geht es weniger um die ideologische Einordnung dieser Vorstellungen und Theorien als vielmehr um deren systemtheoretische Gliederung in einen Entwicklungszyklus der einst mit der Utopia von Thomas Morus begann, und der uns heute eine Vielzahl von nebeneinander existierenden Entwürfen präsentiert. Das besondere an Ihnen ist, dass sie von ihren Protagonisten als schon real existierende Orte wahrgenommen werden, und nicht verstanden als Utopien im herkömmlichen Sinne. Das mag an ihrer Umgebung liegen in der diese Utopien entstanden sind. Das Internet entzieht sich nach Foucault noch des Umstandes eine Heterotopie zu sein, da dessen Ordnungsstrukturen in sich noch zu chaotisch sind, aber darauf angelegt eine zu werden da es jetzt schon durch seine Struktur die vorgängige Gesellschaft zum Verschwinden bringen soll. Falls das Internet allerdings durch die umfassenden, alten Strukturen der sich auflösenden Gesellschaft, also durch ökonomische Interessen des Computermonopolisten Microsoft, oder aber auch noch durch Spuren der militärisch-strategische Anlage des Ur-Netzes beeinflusst wird, so kann es sich schnell zu einer der vielen schon existierenden Heterotopien unserer Gesellschaft zuordnen lassen. Das globale Netz kann aber auch zu einer der Natur entgegenstehende völlig neuen und übergeordneten Heterotopie werden und unser momentan existierendes Gesellschaftssystem völlig ersetzen. Dies kann aber nur dann geschehen, wenn sich durch die bestehenden Forengemeinschaften genügend eigene Heterotopien, also frei funktionierende, auf eigenen Gesetzen basierende, virtuelle Räume schaffen und so dies globale Netz von Innen heraus zu einer Art Metaheterotopie werden lässt.

Die Forderung die sich daraus ergibt ist eindeutig und klar. Schafft Utopien - jeden Tag eine. Bildet Gemeinschaften in der es nicht um die Frage geht ob diese Utopie existieren könnte, sondern um die Frage wo sie schon existiert und wie man dort hinkommt.
Die größte und stärkste Utopie, diejenige die sich selber am wenigsten in Frage stellt, wird am Ende das Antlitz unser Erde vollkommen verändern.

" Die Berührung und der Umgang mit Tlön haben diese unsere Welt zersetzt.........Man hat die Numismatik, die Arzneikunde, die Archäologie reformiert. Ich halte es für ausgemacht, dass die Biologie, und die Mathematik ebenfalls ihrer erneuerten Gestalt harren......Englisch, Französisch und sogar Spanisch werden dann von unserem Planeten verschwunden sein.
Und die Welt wird Tlön sein"


(Tlön, Uqbar, Orbis Tertius - J.L. Borges)
 

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